Gezähmt von sanfter Hand
Überrock. »Sobald ich gefrühstückt habe, fahren wir ab.«
Das Erste, was Richard vom McEnery House sah, erinnerte ihn an seine Vorstellung von Seamus McEnery und den letzten Lebensjahren seiner Mutter. Eng an die windgepeitschte Flanke des Berges geschmiegt, schien das graue, zweistöckige Gebäude direkt aus dem Felsgestein hinter ihm herausgehauen und auf ähnliche Weise verwittert zu sein, ein trist anmutendes, alles andere als einladend wirkendes Gemäuer, das sich nur schwerlich als Behausung für Menschen zu eignen schien. Jedenfalls nicht für lebende Menschen – als Mausoleum dagegen hätte sich der Ort sicherlich hervorragend geeignet. Der vorherrschende Eindruck von abweisender Schroffheit und Kälte wurde noch unterstrichen durch das Fehlen eines Gartens – selbst die Bäume, die die harten, strengen Linien vielleicht ein wenig hätten mildern können, hörten ein gutes Stück von dem Haus entfernt auf, als ob sie sich davor fürchteten, näher heranzukommen.
Als Richard aus seiner Kutsche stieg und an der Hausfassade hinaufblickte, konnte er keinerlei Anzeichen von Wärme oder Leben entdecken, kein Licht, das dem trüben, wolkenverhangenen Tag trotzte, keine prächtigen Vorhänge, die elegant um die Fensterrahmen drapiert waren. Tatsächlich wies das Haus nur einige wenige und noch dazu ziemlich schmale Fenster auf, was vermutlich ein Gebot der Notwendigkeit war. In Keltyburn, unten am Fuße des Berges, war es schon recht kalt gewesen – hier oben jedoch herrschte eine geradezu klirrende Kälte.
Auf Worboys' energisches Klopfen hin öffnete sich die Eingangstür; Richard stieg die Treppenstufen hinauf und überließ es Worboys und zwei Lakaien, sich um das Gepäck zu kümmern. Gleich hinter der Tür wartete bereits ein alter Butler.
»Richard Cynster«, schnarrte Richard und reichte ihm seinen Spazierstock. »Ich bin auf Geheiß des verstorbenen Mr. McEnery gekommen.«
Der Butler verbeugte sich. »Die Familie ist im Salon versammelt, Sir.«
Er nahm Richard den schweren Mantel ab und schritt voran, um ihm den Weg zu zeigen. Richard folgte ihm, und der Eindruck einer Gruft, der sich ihm bereits beim ersten Anblick des Hauses unwillkürlich aufgedrängt hatte, verstärkte sich noch, als sie kahle, mit kalten Steinplatten belegte Korridore entlangwanderten, durch steinerne Türbögen hindurch, die von Säulen aus massivem Granit flankiert waren, und an einer schier endlosen Reihe von fest vor der Außenwelt verschlossenen Türen vorbeigingen. Die Kälte war durchdringend, und Richard dachte gerade daran, den Butler zu bitten, ihm seinen Mantel zurückzugeben, als der Mann schließlich stehen blieb und eine der Türen öffnete.
Nachdem der Butler ihn angemeldet hatte, betrat Richard den Raum.
»Oh! Hallo!« Ein Gentleman mit frischer, gesunder Gesichtsfarbe und einem rötlichen Haarschopf rappelte sich schwerfällig vom Fußboden auf; er hatte gerade mit einem Jungen und einem Mädchen auf dem Teppich vor dem Kaminfeuer Mikado gespielt.
Es war eine Szene, wie Richard sie von zu Hause gewohnt war, und seine kühle, reservierte Miene entspannte sich augenblicklich. »Lasst Euch durch mich nicht stören.«
»Nein, nein! Das heißt …« Der Mann holte abrupt Luft und streckte Richard seine Hand zur Begrüßung hin. »Jamie McEnery.« Dann, als ob er sich der Angelegenheit mit einer gewissen Überraschung entsänne, fügte er hinzu: »Gutsherr von Keltyhead.«
Richard ergriff die dargebotene Hand. Jamie, ungefähr drei Jahre jünger als er und gut einen Kopf kleiner, war stämmig und untersetzt und hatte ein rundes Gesicht mit einem offenen Ausdruck.
»Hattet Ihr eine angenehme Reise?«
»Ja, doch, leidlich angenehm.« Richard sah zu den übrigen Anwesenden hinüber, die in dem Raum saßen, eine erstaunliche Anzahl von Leuten, allesamt in düsterer Trauerkleidung.
»Kommt, ich werde Euch vorstellen.«
Jamie machte ihn der Reihe nach mit den Mitgliedern der Familie bekannt. Richard begrüßte gewandt Jamies Ehefrau, Mary, eine junge Frau mit einem liebreizenden Gesicht, die für seinen Geschmack zwar etwas zu passiv, aber, so vermutete Richard, für Jamie genau die richtige war, sowie ihre Kinder, Martha und Alister, die ihn beide aus großen, runden, erstaunten Augen anblickten, als ob sie noch nie zuvor jemanden wie ihn gesehen hätten. Und dann waren da noch Jamies Geschwister, zwei bleichgesichtige, fade wirkende Schwestern mitsamt ihren sanftmütigen Ehemännern und ihrer sehr jungen,
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