Gezeiten der Liebe
irgendwo ein Loch, schnappten die Krebse todsicher zu.
Er arbeitete in gleichmäßigem Rhythmus, stand breitbeinig da, um auf dem schaukelnden Boot das Gleichgewicht zu halten, und blinzelte gegen die Sonne. Sein vom Wetter und vom Leben gegerbtes Gesicht machte es einem schwer, sein wahres Alter zu schätzen. Man konnte auf fünfzig oder auch auf achtzig Jahre tippen; Jim war es ohnehin herzlich egal, was andere Leute über ihn dachten.
Meist gab er sich reserviert und wortkarg, was Ethan, den ›Capt’n‹, jedoch nicht im geringsten störte.
Ethan nahm jetzt Kurs auf die nächste Falle. Die Ruderpinne, die auf seinem Boot wie bei den meisten der Fischer das Steuerrad ersetzte, hielt er mit der rechten Hand. Mit der Linken bediente er Gashebel und Gangschaltung. Auf der Fahrt längs der Leine mit den Fallen mußten ständig kleinere Richtungskorrekturen vorgenommen werden.
Die Chesapeake Bay zeigte fast jeden Tag ein anderes Gesicht. Mal gab sie sich großzügig und goß ein wahres Füllhorn an Schätzen über die Fischer aus, dann wieder machte sie ihnen das Leben schwer und ließ die Männer für magere Ausbeute kräftig schwitzen.
Ethan kannte die Bucht, als wäre sie ein Teil von ihm selbst – ihre Unbeständigkeit, ihren Wankelmut. Die größte Meeresbucht des Kontinents maß von Norden nach Süden dreihundert Kilometer, war vor Annapolis ganze sechs Kilometer und an der Mündung des Potomac nur fünfundvierzig Kilometer breit. St. Christopher’s lag am südlichen Küstenabschnitt Marylands und profitierte von den ergiebigen Fanggründen der Bucht, hatte jedoch auch unter ihren Launen zu leiden.
Hier bestand die Küste aus Marschland, geädert von Binnengewässern mit steilen Ufern, die von Eukalyptus und Eichen beschattet wurden. Eine magische Welt mit Gezeitenbächen und tückischen Sandbänken, wo wilder Sellerie und Entengras wuchsen. Diese Welt mit ihrem jähen Wechsel der Jahreszeiten, plötzlich losbrechenden Gewittern und den zeitlosen, unwandelbaren Geräuschen und Gerüchen des Wassers war Ethans Universum.
Er griff nach seinem Fischhaken, paßte den richtigen Zeitpunkt ab und holte mit den fließenden Bewegungen eines Tänzers die Leine der nächsten Falle ein.
Wenig später tauchte die Falle aus dem Wasser auf, verklebt mit Seetang, Resten alter Köder – und randvoll mit Krebsen.
Als die Falle in der Halterung einrastete, fing die Sonne sich in den hellroten Zangen der ausgewachsenen Blaukrabben-Weibchen und den zornfunkelnden Augen der Männchen.
»Nicht schlecht.« Mehr sagte Jim nicht, als er die Falle an Bord hievte, als wiege sie nicht etliche Pfund, sondern nur einige wenige Gramm.
Es herrschte rauher Seegang, was auf einen nahenden Sturm schließen ließ. Als sie weiterfuhren, bediente Ethan die Steuerung mit den Knien. Dabei blickte er immer wieder prüfend zu den dunklen Wolken, die sich am westlichen Horizont zusammenballten.
Sie hatten noch genug Zeit, um die Fallen im Herzen der Bucht abzufahren. Er wußte, daß Jim dringend Geld benötigte – und auch er nahm, was er kriegen konnte, um es in die noch junge Bootswerkstatt zu stecken, die er mit seinen Brüdern zusammen aus der Taufe gehoben hatte.
Ja, die Zeit reicht gerade noch, sagte er sich, als Jim neue Köder aus tiefgefrorenen Fischresten in eine Falle legte und diese ins Wasser warf. Weit über die Reling gebeugt, holte Ethan den nächsten Schwimmer ein.
Simon, Ethans Chesapeake Bay-Retriever, stand mit hängender Zunge neben ihm, die Vorderpfoten auf das Dollbord gestützt. So wie sein Herrchen war er draußen auf dem Wasser in seinem Element.
Die Männer arbeiteten schweigend weiter; sie verständigten sich nur hin und wieder durch einen abgehackten Laut, ein Schulterzucken oder einen unterdrückten Fluch. Da es in dieser Saison Krebse in Hülle und Fülle gab, lohnte sich die Arbeit. In manchen Jahren bot sich ein völlig anderes Bild; dann schien der Winter nahezu den ganzen Bestand an Krustentieren vernichtet zu haben. Oder man hatte den Eindruck, daß das Wasser sich nie genug erwärmen würde, um sie aus ihren Schlupflöchern zu locken.
In solchen Jahren gerieten die Fischer in arge Bedrängnis, wenn sie nicht über zusätzliche Einkommensquellen verfügten. Deshalb hatte Ethan vor, sich ein zweites Standbein zu schaffen – durch den Bootsbau.
Das erste Boot der Quinn-Brüder war fast fertig. Ein erstklassiges, wunderschönes Boot, fand Ethan. Cameron hatte auch bereits einen Kunden für das
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