Gezeiten der Liebe
Sozialarbeiterin geheiratet hatte, würden sie vielleicht Frieden schließen.
Und Ruhe und Frieden gingen Ethan über alles.
Was nicht hieß, daß sie nicht noch allerlei andere Kämpfe zu bestehen hatten – zum Beispiel mit der Versicherung, die sich weigerte, Rays Police einzulösen, da der Verdacht auf Suizid nicht ausgeräumt sei. Ethans Magen zog sich zusammen, und er mußte tief durchatmen. Sein Vater hätte niemals Hand an sich gelegt, niemals! Völlig undenkbar. Der Große Quinn hatte sich alle Problemen mutig gestellt und seine Söhne dazu erzogen, seinem Beispiel nachzueifern.
Doch der Verdacht hing über der Familie wie eine dunkle Wolke, die sich nicht vertreiben lassen wollte. Hinzu
kamen noch weitere Komplikationen. Einige Zeit vor Rays Tod war plötzlich Seth’ Mutter in St. Christopher’s aufgetaucht und hatte den Vorwurf erhoben, Ray habe sie sexuell belästigt. Sie hatte ihn sogar beim Dekan des Colleges angezeigt, an dem Ray englische Literatur lehrte. Das Verfahren war zwar eingestellt worden – ihre Aussage enthielt einfach zu viele Ungereimtheiten, zu viele Lügen –, aber jeder wußte, daß diese Episode seinen Vater zutiefst erschüttert hatte. Kurz nachdem Gloria DeLauter die Stadt verlassen hatte, war Ray ebenfalls weggefahren.
Er war mit Seth zurückgekommen.
Dann gab es da noch den Brief, den man nach dem Unfall in Rays Wagen gefunden hatte; einen erpresserischen Drohbrief von Gloria DeLauter. Wie sich herausstellte, hatte Ray ihr Geld gegeben – viel Geld.
Inzwischen war die Frau untergetaucht. Ethan hoffte, sie nie wieder zu sehen, obgleich das Gerede in der Stadt wohl erst dann verstummen würde, wenn Rays Verhältnis zu ihr geklärt wäre. Ihm selbst waren in dieser Hinsicht die Hände gebunden; er wußte zu wenig.
Ethan trat in den Flur und klopfte an die Tür des Zimmers gegenüber. Er hörte ein Stöhnen, dann undeutliches Gemurmel, gefolgt von einem wüsten Fluch. Ethan wandte sich ab und ging nach unten. So wie jeden Tag würde Seth sich auch heute beschweren, weil er so früh aufstehen mußte. Aber da Cam und Anna in Italien Flitterwochen machten und Phillip erst am Wochenende aus Baltimore zurückkam, oblag es Ethan, den Jungen morgens aus den Federn zu holen und bei einem Freund abzuliefern, mit dem er später zusammen zur Schule ging.
Ein Fischer mußte nun mal vor Sonnenaufgang draußen auf dem Wasser sein, zumal die Krebssaison mittlerweile in vollem Gang war. Deshalb würde sich Seth bis zu Cams und Annas Rückkehr wohl oder übel nach der Decke strecken müssen.
Ethan fand sich in dem dunklen, stillen Haus problemlos zurecht. Er besaß zwar eine eigene Bleibe, aber es war Teil der Vereinbarung mit den Behörden, daß die Quinn-Brüder unter einem Dach lebten und sich die Verantwortung für den Jungen teilten. Nur unter dieser Bedingung hatte man ihnen die Vormundschaft zugesprochen.
Es störte Ethan nicht, Verantwortung zu übernehmen; obwohl ihm sein kleines Haus und das ungestörte, selbstgenügsame Leben, das er dort geführt hatte, fehlten.
Er schaltete das Licht in der Küche an. Gestern war Seth an der Reihe damit gewesen, nach dem Essen Ordnung zu schaffen, eine Aufgabe, die er ausgesprochen halbherzig erfüllt hatte. Ethan übersah das klebrige Chaos auf dem Eßtisch geflissentlich und ging direkt zum Herd hinüber.
Dort lag Simon, sein Hund, streckte sich träge und wedelte zur Begrüßung mit dem Schwanz. Während Ethan den Kaffee aufsetzte, kraulte er dem Retriever zerstreut den Kopf.
Sein Traum fiel ihm wieder ein, die Bilder, die kurz vor dem Aufwachen an ihm vorübergezogen waren ... Er fuhr mit seinem Vater auf dem Kutter raus, um die Krebsfallen zu überprüfen. Die Sonne schien heiß vom Himmel herab und blendete ihn; das Wasser lag still und spiegelglatt da. Alles war so lebensnah, daß er sogar den Geruch des Wassers, den Geruch nach Fisch und Schweiß wahrnahm.
Die Stimme seines Vaters, die er noch so gut in Erinnerung hatte, übertönte den Motorenlärm und das Geschrei der Möwen: »Ich wußte, daß Seth bei euch dreien in guten Händen sein würde.«
»Du mußtest ja nicht gleich sterben, um das zu wissen.« In seiner Stimme schwang Ärger, unterdrückte Wut auf seinen Vater, über seinen Tod mit, die er sonst erfolgreich verdrängte.
»Darum ging es mir ja auch gar nicht«, erwiderte Ray
gelassen und pulte Krebse aus der Falle, die Ethan mit dem Fischhaken an Bord gehievt hatte. Seine dicken, leuchtend orangefarbenen
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