Gezeiten der Liebe
berührten. »Was ihn auch belastet haben mag, an dir lag es nicht. Du warst sein stärkster, über weite Strecken sogar sein einziger Halt. Das konnte jeder sehen.«
»Wenn ich ihn öfter darauf angesprochen hätte ...«, begann er.
»Das ist nicht deine Art«, sagte sie wieder, vergaß, daß ihre Hand klebrig war, und berührte sein Gesicht. »Du wußtest, daß er sich dir öffnen würde, sobald er bereit dazu wäre – dann eben, wenn er es für richtig hielt.«
»Da war es schon zu spät.«
»Nein, es ist nie zu spät.« Ihre Finger fuhren federleicht über seine Wange. »Es gibt immer eine nächste Chance. Ich glaube nicht, daß ich weitermachen könnte, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß es immer eine nächste Chance gibt . . . Keine Sorge«, sagte sie leise.
Er spürte, wie in seinem Innern etwas aufbrach und streckte die Hand aus, um sie auf die ihre zu legen. Irgend etwas in ihm löste sich, befreite sich. Dann stieß Aubrey plötzlich einen wilden Freudenschrei aus.
»Grandpa!« jubelte sie.
Grace’ Hand zuckte und viel wie leblos herab. Die Wärme, die sie ausgestrahlt hatte, erlosch. Ihre Schultern strafften sich, als sie sich steif nach vorn wandte und ihrem Vater entgegenblickte.
»Da ist ja mein Püppchen. Komm her zu Grandpa.«
Grace ließ ihre Tochter los und beobachtete, wie sie wegrannte und von ihrem Großvater umfangen wurde. Er ließ sich von ihren klebrigen Händchen und ihrem verschmierten Mund nicht abschrecken. Lachend drückte er sie an sich und leckte sich die Lippen, als sie ihn küßte.
»Mmm. Erdbeere. Mehr, mehr.« Er machte Kaugeräusche an Aubreys Hals, bis sie vor Vergnügen quietschte. Dann nahm er sie auf den Arm und trug sie mühelos die wenigen Meter zu seiner Tochter. Prompt verschwand sein Lächeln. »Grace, Ethan ... Macht ihr einen kleinen Sonntagsspaziergang?«
Grace’ Kehle war trocken, ihre Augen brannten. »Ethan hat uns ein Eis spendiert.«
»Na, das ist ja nett von ihm.«
»Etwas davon trägst du jetzt als Hemdschmuck«, bemerkte Ethan in der Hoffnung, die Spannung abzubauen, die in der Luft knisterte.
Pete schaute auf sein Hemd hinunter, auf dem Aubreys geliebtes Erdbeereis unübersehbare Spuren hinterlassen hatte. »Kleider lassen sich waschen. Man sieht dich sonntags nur noch selten am Hafen, Ethan, seit ihr an dem Boot baut.«
»Ich hab’ mir ein Stündchen freigehalten, bevor ich gleich wieder loslegen muß. Der Rumpf ist komplett, und das Deck ist fast auch soweit.«
»Gut, gut.« Pete nickte ehrlich erfreut, dann heftete sich sein Blick auf Grace. »Deine Mutter wartet drüben im Speiseraum. Sie möchte ihre Enkeltochter sehen.«
»In Ordnung. Ich ...«
»Ich bringe sie zu ihr«, fiel er ihr ins Wort. »Du kannst schon nach Hause gehen, wenn du willst. Deine Mutter liefert sie dann in ein, zwei Stunden bei dir ab.«
Diesem höflich-distanzierten Ton hätte sie eine lautstarke Auseinandersetzung jederzeit vorgezogen, sie nickte jedoch stumm, da Aubrey bei der Aussicht, ihre Grandma zu treffen, bereits in Begeisterungsstürme ausbrach.
»Tschüß! Tschüß Mama. Tschüß Ethan!« rief die Kleine über Petes Schulter und warf ihnen Kußhände zu.
»Es tut mir so leid, Grace.« Da er spürte, wie unzulänglich Worte waren, nahm Ethan ihre Hand. Sie fühlte sich steif und kalt an.
»Es spielt keine Rolle. Es darf keine Rolle spielen. Er liebt Aubrey. Er vergöttert sie geradezu. Das ist alles, was zählt.«
»Es ist nicht fair dir gegenüber. Dein Vater ist ein guter Mensch, Grace, aber zu dir war er nicht fair.«
»Ich hab’ ihn eben im Stich gelassen.« Sie stand auf und
wischte sich schnell die Hände an den zusammengeknüllten Servietten ab. »Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«
»Es geht doch bloß darum, wessen Stolz größer ist, seiner oder deiner.«
»Mag sein. Aber mein Stolz ist mir eben sehr wichtig.« Sie warf die Servietten in einen Mülleimer und gab sich einen Ruck. »Ich muß jetzt nach Hause, Ethan. Ich hab’ noch tausend Dinge zu erledigen, und da meine Zeit knapp bemessen ist, muß ich jede freie Minute nutzen.«
Er drang nicht weiter in sie, merkte jedoch verwundert, wie gern er es getan hätte. Dabei konnte er es nicht ausstehen, wenn andere ihn veranlassen wollten, über persönliche Dinge zu reden. »Ich fahre dich nach Hause.«
»Nein, ich möchte zu Fuß gehen. Wirklich. Danke für deine Hilfe.« Sie brachte ein Lächeln zustande, das fast natürlich wirkte. »Und für das Eis. Morgen komme ich dann
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