Gezeiten der Liebe
ausschlagen.
Das Zentrum von St. Chris lag nur eineinhalb Kilometer entfernt, doch im Gegensatz zu dem ruhigen Wohnviertel herrschte an der Hafenpromenade ein geradezu geschäftiges Treiben. Der Geschenk – und Andenkenladen hatte in der Sommersaison die ganze Woche über geöffnet – ein Spezialservice für die Touristen. Pärchen und ganze Familien
schlenderten mit Einkaufstüten vorbei, die mit Erinnerungen an ihren Urlaub angefüllt waren.
Der Himmel zeigte ein strahlendes Blau, das sich in der Bucht spiegelte und zahlreiche Boote zu einer Kreuzfahrt hinauslockte. Zwei Wochenendsegler hatten nicht aufgepaßt, so daß die Leinen ihrer kleinen Sunfish-Boote sich verhedderten und die Segel schlaff herabhingen. Trotz des kleinen Mißgeschicks schienen sie dennoch bester Laune zu sein.
Grace roch Bratfisch, geschmolzenen Zucker, die Kokosnußsüße von Sonnenschutzmitteln und den ewigen herben Atem der Bucht.
Hier an der Bucht war sie aufgewachsen, hatte die Segelboote beobachtet und selbst Segeln gelernt. Sie lief ungehindert auf den Docks herum und ging in den Läden ein und aus. Auf den Knien ihrer Mutter sitzend lernte sie, Krabben zu pulen, erwarb sich die Schnelligkeit und Geschicklichkeit, die man brauchte, um das Fleisch herauszulösen, die kostbaren Leckerbissen, die hier sorgfältig verpackt und in die ganze Welt verschickt wurden.
Harte Arbeit war ihr nie fremd gewesen, aber sie hatte sich immer frei gefühlt. Ihre Familie hatte gut, wenn auch nicht unbedingt luxuriös gelebt. Ihr Vater lehnte es ab, seine Frauen zu sehr zu verwöhnen, doch trotz seiner Strenge war er zärtlich und liebevoll mit ihr umgegangen. Und er hatte ihr nie das Gefühl gegeben, daß es ihn enttäuschte, nur eine Tochter und keine Söhne zu haben, die seinen Namen weitertragen würden.
Aber letztlich hatte sie ihn dann doch enttäuscht.
Grace hob Aubrey auf ihre Hüfte und drückte sie an sich.
»Viel los heute«, bemerkte sie.
»Man hat den Eindruck, daß jedes Jahr mehr Touristen kommen.« Ethan zuckte die Schultern. Nun ja, sie brauchten die Sommergäste, um die Winter zu überstehen. »Ich hab’ gehört, daß Bingham sein Restaurant ausbauen und
verschönern will, um das ganze Jahr über Gäste anzulocken.«
»Na, er hat ja auch eigens diesen Koch aus dem Norden kommen lassen, und das Restaurant wurde überdies lobend in der Beilage der Washington Post erwähnt.« Sie schaukelte Aubrey auf ihrer Hüfte. »Das Egret Rest ist das einzige feine Restaurant in weitem Umkreis. Eigentlich müßte es sich positiv für die Stadt auswirken, wenn es mehr aus sich macht. Früher sind wir dort immer zu speziellen Anlässen essen gegangen.«
Sie setzte Aubrey ab und versuchte nicht daran zu denken, daß sie das Restaurant schon seit über drei Jahren nicht mehr von innen gesehen hatte. Ach, Schwamm drüber. Sie nahm Aubrey an der Hand und ließ sich von ihrer willensstarken kleinen Tochter ins Crawford’s ziehen.
Das Café war die zweite tragende Säule des Geschäftslebens von St. Chris. Im Crawford’s bekam man Eis, kalte Getränke und Sandwiches zum Mitnehmen. Da es schon Mittag war, herrschte dort Hochbetrieb. Grace ermahnte sich, nicht alles zu verderben, indem sie darauf hinwies, daß sie der Gesundheit zuliebe statt Eis lieber Sandwiches essen sollten.
»Hallo, Grace, Ethan. Hallo, hübsche kleine Aubrey.« Liz Crawford zwinkerte ihnen lächelnd zu, während sie geschickt ein Sandwich mit kaltem Braten belegte. Sie war mit Ethan zur Schule gegangen und eine kurze, unbeschwerte Zeitlang seine Freundin gewesen, eine Episode, an die beide nur gute Erinnerungen hatten.
Jetzt war die mollige, sommersprossige Liz Mutter zweier Kinder und verheiratet mit Junior Crawford, wie er genannt wurde, um ihn von seinem Vater, Senior Crawford, zu unterscheiden.
Junior, dürr wie eine Bohnenstange, pfiff durch die Zähne, während er Preise in die Kasse eintippte, und grüßte sie kurz.
»Heute ist viel Betrieb«, sagte Ethan und wich dem Ellbogen eines Kunden am Tresen aus.
»Das kann man laut sagen.« Liz verdrehte die Augen, wickelte das Sandwich routiniert in weißes Papier und reichte es mit drei anderen Paketen über die Theke. »Wollt ihr alle ein Sandwich?«
»Eis«, sagte Aubrey bestimmt. »Beere.«
»Na, dann geh schon mal und sag Mutter Crawford Bescheid. Ach, Ethan, vorhin war Seth hier, mit Danny und Will. Ich muß schon sagen, diese Kids schießen in die Höhe wie Unkraut im Hochsommer. Sie haben einen ganzen Berg
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