Gezeiten der Liebe
hätte geschehen können. »Warum hast du es mir erzählt?«
»Weil du wissen sollst, daß man trotzdem ein Mann sein kann.« Ethan wartete. Seth mußte sich entscheiden, ob er diese Wahrheit akzeptieren wollte oder nicht.
Vor sich sah Seth einen Mann, groß, stark, selbstbewußt, mit kräftigen, schwieligen Händen und festem Blick. Eine große Last, die ihm auf der Seele gelegen hatte, hob sich. »Ja, schätzungsweise.« Er lächelte zögernd. »Deine Lippe blutet.«
Ethan wischte sich das Blut ab und wußte, daß sie einen entscheidenden Schritt nach vorn getan hatten. »Du hast einen wirkungsvollen rechten Haken. Ich hab’ ihn nicht mal kommen sehen.« Er streckte probehalber die Hand aus und zerwühlte Seth’ vom Schlaf zerzaustes Haar. Der Junge lächelte. »Laß uns zusammenpacken«, sagte Ethan. »Wir fahren nach Hause.«
5. Kapitel
An diesem Morgen hatte Grace alle Hände voll zu tun. Die erste Ladung Wäsche steckte sie schon um Viertel nach sieben in die Maschine, als sie den Kaffee aufbrühte. Ihre Augen waren noch halb geschlossen. Herzhaft gähnend goß sie die Pflanzen auf ihrer Veranda und die kleinen Töpfe mit Kräutern auf dem Fensterbrett in der Küche.
Als das Aroma des Kaffees allmählich die Luft erfüllte und ihr die berechtigte Hoffnung gab, endlich richtig wach zu werden, wusch sie die Gläser und Schalen ab, die von gestern abend stammten, als Julie auf Aubrey aufgepaßt hatte. Sie verschloß die offene Tüte mit Kartoffelchips und legte sie in den Schrank, dann wischte sie die Krümel vom Küchentresen, wo Julie beim Telefonieren genascht hatte.
Julie Cutter war keine Leuchte, klar, aber sie liebte Aubrey, und das war in Grace’ Augen das A und O.
Um Punkt halb acht – nachdem Grace gerade eine halbe Tasse Kaffee getrunken hatte – wachte Aubrey auf.
So zuverlässig wie die Sonne, dachte sie, verließ die winzige Kombüsenküche und ging in das neben dem Wohnraum gelegene Kinderzimmer. Bei Regen oder bei klarem Wetter, in der Woche oder am Wochenende, Aubreys innere Uhr schrillte jeden Morgen Schlag halb acht.
Grace hätte sie noch eine Weile in ihrem Bettchen liegen lassen und in Ruhe ihren Kaffee austrinken können, doch auf diesen Moment freute sie sich jeden Tag. Aubrey stand schon aufrecht in ihrem Bett, ihre Sonnenstrahllocken waren zerzaust, ihre Wangen gerötet. Grace konnte sich noch an das erste Mal und den leichten Schrecken erinnern, als sie Aubrey stehend vorgefunden hatte, auf schwankenden
kleinen Beinchen und mit vor Stolz und Überraschung leuchtendem Gesicht.
Inzwischen wirkten Aubreys Beine schon richtig stämmig. Sie hob erst eines, dann das zweite in einer Art Freudenmarsch. Dann lachte sie laut los. »Mama, Mama, hallo, meine Mama!«
»Hallo, mein Baby.« Grace beugte sich über das Gitter, um mit ihr zu schmusen, und seufzte. Sie hatte wirklich großes Glück. Auf der ganzen Welt konnte es kein fröhlicheres Kind geben als ihr kleines Mädchen. »Wie geht’s meiner Aubrey heute?«
»Ich bin wach! Ich will raus!«
»Und ob. Mußt du Pipi?«
»Ich muß Pipi«, sagte Aubrey und kicherte, als Grace sie aus ihrem Bettchen hob.
Toiletten-Training, entschied Grace und überprüfte auf dem Weg ins Bad Aubreys Nachtwindel. Mal ging es gut, mal daneben.
Diesmal landete Aubrey einen Volltreffer, und Grace stimmte die überschwengliche Lobeshymne an, für die nur Eltern eines Kleinkinds Verständnis aufbringen. Dann kamen Zähneputzen und Haarebürsten an die Reihe, alles in dem winzigen Bad, das Grace mit pastellgrüner Farbe und buntgestreiften Vorhängen aufgehellt hatte.
Anschließend war es Zeit für das Frühstück. Aubrey wollte Getreideflocken mit Banane, aber ohne Milch. Sie hielt die Hand auf die Schale, als Grace welche hinzugießen wollte, und schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Mama, nein. Tasse. Bitte.«
»Na schön, die Milch in einer Tasse.« Grace goß Milch ein und stellte die Tasse neben die Schale auf das Tablett des Hochstuhls. »Jetzt iß schön auf. Wir haben heute viel vor.«
»Was denn?«
»Mal sehen.« Grace nahm sich eine Scheibe Toast, während
sie den vor ihnen liegenden Tag durchging. »Wir müssen die Wäsche fertig machen, und dann haben wir Mrs. West versprochen, heute ihre Fenster zu putzen.«
Ein Dreistundenjob, schätzte Grace.
»Danach gehen wir in den Supermarkt.«
Aubrey holte erfreut Luft. »Miß Lucy?«
»Ja, du wirst Miß Lucy sehen.« Lucy Wilson war eine von Aubreys Lieblingen. Die Kassiererin im
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