Gezeitengrab (German Edition)
allein ist? «Was für eine schöne Hochzeit! Ich bin sicher, ihr werdet sehr glücklich, Darren und du.»
Da hatte Judy seltsam gelacht. Ihre Augen glitzerten, der Schleier war verrutscht. «Ach ja? Ich bin mir da nicht so sicher.» Und sie hatte ihre Röcke gerafft und war zurück nach drinnen gegangen, um sich der Polonaise anzuschließen.
Was Judy bloß damit gemeint hat? Ruth will gar nicht weiter darüber nachdenken. Sie hat schon mehr als genug Komplikationen in ihrem eigenen Leben. Wenn nicht einmal Judy, die ihre Jugendliebe heiratet, glücklich ist, was soll denn dann aus ihnen allen werden?
Clara zumindest ist offensichtlich nicht glücklich. Sie saß ganz hinten in der Kirche, bleich und hübsch in einem grauen, ärmellosen Kleid. Ruth hat sie zur Taufe eingeladen, weil Clara Kate offenbar wirklich gernhat. Außerdem hat Ruth ein schlechtes Gewissen, weil sie Clara, wenn auch nur kurz, für die Mörderin gehalten hat. Inzwischen erkennt sie, dass Clara nur eine orientierungslose junge Frau ist, fast selbst noch ein Kind, und um ihre erste große Liebe trauert. Aber immerhin hat sie inzwischen bei ein paar Ausgrabungen geholfen und denkt darüber nach, an die Universität zurückzukehren und forensische Archäologie zu studieren. Ruth kann nur hoffen, dass die Karriere, die Clara vor sich hat, etwas weniger ereignisreich verläuft als ihre eigene.
Irene Hastings ist tot. Sie starb kurz nach Craigs Versuch, die Familienehre durch einen weiteren Mord zu wahren, und kurz nachdem Nelson fast ertrunken wäre. Nelson wird immer noch beklommen zumute, wenn er an Stella Hastings’ Miene an jenem Nachmittag denkt. Sie hat gewusst, dass ihre Schwiegermutter nicht mehr lange leben wird. Ob sie ihr Sterben beschleunigt hat? Und wie viel mag Irene von den Morden gewusst haben? Sie hat sowohl Archie Whitcliffe als auch Hugh Anselm besucht. Sie war mit allen Mitgliedern der Home Guard gut bekannt, auch mit Craigs Großvater, der ihr angeblich treu ergeben war. Und in jedem Fall wusste sie genug, um widerstandsfähige Frühjahrsblüher in den Helm eines deutschen Soldaten zu pflanzen. Ob Irene mit Craig gemeinsame Sache gemacht hat? Wem hat die Gartenschere wirklich gehört? Und wer hat Craig gewarnt, als Hugh Anselms lästiges Gewissen sich wieder zu regen begann?
Doch solche Zweifel behält Nelson für sich. Der Fall ist abgeschlossen, und Whitcliffe ist zufrieden. Craig ist der Morde an Archibald Whitcliffe, Hugh Patrick Anselm und Dieter Eckhart angeklagt. Er hat ein umfassendes Geständnis abgelegt.
Archie wurde mit allen militärischen Ehren von Father Tom beigesetzt und liegt jetzt auf dem Friedhof in Broughton. Ob auch der Tod der sechs Deutschen irgendwann noch einmal aufgerollt wird, ist fraglich. Hughs Film, der über all die Jahre so sorgsam geheim gehalten wurde, liegt in den höheren Etagen der Polizei, doch die Meinungen gehen allgemein dahin, dass es sich nicht lohnt, den Fall weiterzuverfolgen, da alle Beteiligten inzwischen tot sind. Auch die Angehörigen in Deutschland dürsten auffallend wenig nach Rache; sie wollen nur die Leichen ihrer Lieben zurück. Es liegt eben ein großer Trost darin, ein Grab besuchen zu können. Erik hat das immer gewusst. Ruth hat den Angehörigen von Manfred Hahn den Rosenkranz geschickt, der in seiner Hand gefunden wurde. Wahrscheinlich war er derjenige, der, kurz bevor er erschossen wurde, noch zu Gott gebetet hat, was wiederum der junge Hugh Anselm hörte. Manfred Hahns Enkelin hat ihr einen sehr netten Brief geschrieben und ihr versichert, dass sie den Rosenkranz immer in Ehren halten werde. Und Ruth hofft, dass auch Hugh mit dieser Entente Cordiale einverstanden gewesen wäre.
Es ist also durchaus möglich, dass Buster Hastings’ Ruf als «Satansbraten», der den «gerechten Kampf gekämpft hat», erhalten bleibt. Wirklich erinnern werden sich nur die Enkel jener Männer aus der Home Guard: Clara, Craig und Whitcliffe.
Whitcliffe kauft jetzt eine Wohnung für Maria.
«Er meint, sein Großvater hätte das so gewollt», hat Nelson Ruth erzählt.
«Da wird er wohl recht haben. Vielleicht ist er ja doch kein so schlechter Kerl.»
Nelson macht sich seine eigenen Gedanken zu dem Thema. Kann es sein, dass Superintendent Whitcliffe der Vater von Marias kleinem Sohn ist? War das vielleicht der Grund, warum Archie ihr den Code hinterlassen hat: weil er wusste, dass die Sache so früher oder später ihren Weg zur Polizei finden und vielleicht sogar Georges Eltern
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