Gezeitengrab (German Edition)
hierher, die auch vor dem Mord an Zivilisten nicht zurückschreckten. Sie erinnert sich, dass ihr tatsächlich übel wurde vor Angst und sie trocken würgend hinter den Zelten stand, während Erik und die anderen die Ausrüstung in den Laster packten.
Erik war die Ruhe selbst. Noch jetzt verspürt Ruth einen gewissen Stolz auf ihn, wenn sie daran denkt, wie er darauf bestand, hinunter ins Flüchtlingslager zu gehen. «Wer weiß, vielleicht können wir mit unserer Anwesenheit ja Leben retten. Wir sind schließlich Teil der internationalen Hilfsorganisation. Sie können uns nicht einfach kaltblütig ermorden.»
Ivan fasste ihn am Arm, sein sonst so rosiges Gesicht kalkweiß vor Angst.
«Sie verstehen nicht, Professor Anderssen. Das ist …» Und er nannte einen serbischen Namen, der Ruth absolut nichts sagte.
Tatjana aber offenbar umso mehr. Sie kam aus ihrer dunklen Ecke hervor und bombardierte Ivan auf Bosnisch mit Fragen. Ruth erinnert sich, dass Ivan zunehmend gehetzter aussah, je länger er sich mit Tatjana auseinandersetzte. Was immer er dort unten in dem brennenden Dorf gesehen hatte, war offenbar nicht so furchteinflößend gewesen wie diese kleine dunkelhaarige Frau.
Die ganze Nacht über harrten sie im Flüchtlingslager aus. Erik hatte angeordnet, ein Feuer zu machen. «Es ist seit Jahrhunderten dasselbe. Ein Feuer gibt uns Geborgenheit und schreckt unsere Feinde ab. Es steht für die Flamme des heimischen Herdes ebenso wie für das sengende Hitze des Kampfes.» Und so hatten sie sich um Eriks Feuer geschart und saßen so dicht an den Flammen, wie sie es nur wagten. Erst waren es nur die Archäologen gewesen, doch nach und nach kamen auch die Flüchtlinge dazu, und der Kreis rund um das Feuer verbreiterte sich immer mehr wie Wellen auf einem Teich. In dieser Nacht suchten offenbar alle die Wärme des Herdes.
Alle – bis auf Tatjana. Ruth hatte schon früh bemerkt, dass sie fort war, traute sich aber nicht, Erik und das tröstliche Feuer zu verlassen. Doch im Lauf der Nacht wurde Ruth immer klarer, dass sie ihre Freundin finden musste. Sie kehrte zum Archäologen-Camp am Fuß des Hügels zurück und fand dort Tatjana, die gerade mit einer Pistole in der Hand in den Wagen stieg, in dem bereits ein angststarrer Ivan saß.
«Tatjana! Was hast du vor?»
«Halt dich da raus, Ruth.» Tatjana war bleich, aber völlig ruhig. «Das hat nichts mit dir zu tun.»
«Was hast du mit der Pistole vor? Was ist los?»
Da hatte Tatjana es ihr doch erzählt. Sie hatte den Namen des Rebellenführers erkannt. Er war der Mann, der Jakob getötet hatte.
«Und was willst du jetzt tun?»
Aber sie kannte die Antwort schon.
«Ich werde ihn töten», sagte Tatjana ruhig.
Da war wieder dieser Blick in ihren Augen. Diese brennende Leidenschaft, deren Anblick kaum zu ertragen war.
«Ich muss es tun, Ruth. Halt mich nicht auf.»
Und Ruth hatte sie nicht aufgehalten. Sie wusste nicht, was sie ihrer Freundin sagen sollte – fand einfach nicht die richtigen Worte, die vernünftig, verständnisvoll, tröstend genug gewesen wären. Und so ließ sie Tatjana gehen. Und als sie am Morgen hörte, der Rebellenführer sei tot, des Nachts im Schlaf erschossen, da wusste sie, dass sie versagt hatte.
Sie hat immer noch das Gefühl, versagt zu haben. Doch jetzt versteht sie es. Sie versteht es nur zu gut.
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32
Mai
Kate muss schwerer geworden sein, denkt Ruth. Es war schon erstaunlich anstrengend gewesen, sie während der kurzen Messe zu halten, und nun, nachdem der Gottesdienst vorbei ist, wollen die Leute anscheinend gar nicht mehr aufhören, Fotos zu machen. Die Arme tun ihr weh, als sie ihre Tochter noch weiter in die Höhe stemmt.
«Halt sie hoch, Ruth. Ja, so. Noch ein bisschen. Und jetzt lächeln, Kate!»
Auch das Gesicht tut ihr weh, weil sie die ganze Zeit diesen seligen, mütterlichen Ausdruck zu halten versucht. Sie weiß wirklich nicht, wie sie sich von Nelson dazu überreden lassen konnte. Aber seit Craig verhaftet wurde und Nelson selbst fast ertrunken ist, schien er ganz besessen von der Idee, Kate katholisch taufen zu lassen.
«Aber Nelson», hat Ruth protestiert. «Ich glaube doch gar nicht an den ganzen Kram. Weder an den Leib und das Blut noch an die Heiligen und das Leben nach dem Tod.»
«Aber an Cathbads Mist glaubst du doch auch nicht und hast die Namensweihe trotzdem durchgezogen. Wo ist denn da der Unterschied?»
Ruth fallen etliche Unterschiede ein – sie braucht sich zum Beispiel
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