Gezeitengrab (German Edition)
wieder zusammenführen würde? Und ist das die wahre Bedeutung der rätselhaften Nachricht aus Archies letztem Willen? Mein lieber Gerald, ich bin sehr stolz auf dich und weiß, du wirst das Richtige tun. Nelson ist sich nicht sicher, und Whitcliffe sagt natürlich nichts. Aber so oder so gelingt es ihm nicht, wieder denselben Hass und dieselbe Verachtung für seinen Chef aufzubringen wie früher. Eigentlich schade. Es fehlt ihm.
Sea’s End House wird abgerissen. Die Stadtverwaltung hat es für akut gefährdet erklärt, und obwohl Jack Hastings damit droht, die Sache vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen, scheint er sich doch im Grunde damit abgefunden zu haben, den Familiensitz zu verlieren. Der Tod seiner Mutter hat ihn schwer getroffen, und bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Ruth ihn seither gesehen hat, wirkte er kleinlaut, fast geschrumpft, wie der kleine Mann, der er ist. Er spricht nicht mehr davon, dass jeder Engländer König im eigenen Heim sei, und spielt mit dem Gedanken, nach Spanien zu ziehen. Ruth ihrerseits tut es leid um das geisterhafte graue Haus dort oben auf dem Felsen. Sie muss immer noch an die Nacht denken, die sie dort verbracht hat: der Schnee auf dem Strand, Nelsons Gesicht im Kerzenlicht, die Uhr, die Mitternacht schlug. Und sie spürt immer noch das seltsame Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein, so als hätte sie, wäre sie während des Essens tatsächlich aus dem Haus getreten, dort nicht die schneebedeckten Autos und die blinkenden Warnleuchten von der Küstenstraße her vorgefunden, sondern Captain Hastings und seine Männer, die den Steilpfad zum Strand hinabstapften, das Boot, das an Land ruderte, die Schreie aus der längst verschwundenen Laube und das flache Grab, das am Fuß der Felswand ausgehoben wurde. Auch an Tony muss sie denken, Jacks älteren Bruder, der als kleines Kind von seinem Turmfenster aus das alles beobachtet hat. Tony, der mit Mitte dreißig an Krebs gestorben ist. Hat sein Tod Irene Hastings so geplagt, oder war es der Tod der sechs Männer, die auf Befehl ihres Mannes ermordet wurden?
Cathbad möchte mit Kate auf dem Arm fotografiert werden, und Ruth gibt sie dankbar an ihn weiter. Ihre Arme sind schon fast taub. Cathbad hält Kate mit dem Gesicht nach vorn wie einen Fußballpokal. Ruth ist schon aufgefallen, dass viele Männer das tun. Shona fotografiert und lässt dann noch ein Bild von sich und Cathbad mit dem Baby machen. Wenn man sich Cathbads Umhang wegdenkt, sehen sie fast aus wie die perfekte Kleinfamilie. Ruth bemerkt, dass Phil recht verärgert schaut. Sie weiß, Shona möchte gern ein Kind, doch Phil ist der Meinung, dass er sein Soll als Vater bereits erfüllt hat. Ob Shona ihn wohl noch überreden wird? Er ist schließlich ganz vernarrt in sie, folgt ihr wie ein kleiner Hund überallhin und trägt ihr den neonpinken Paschminaschal hinterher wie ein Rangabzeichen.
Cathbad gibt ihr Kate zurück. «Wie wär’s noch mit einem Foto von euch beiden mit allen Paten?», schlägt er vor. «Ich hole Harry und Michelle.»
«Nein, schon gut», sagt Ruth. Diese ganze Fotografiererei wird ihr langsam zu viel, obwohl Kate sichtlich Spaß daran hat. Eigentlich wollte Ruth nur eine kleine Messe, ohne viel Aufwand und Tamtam, bloß ein paar Freunde und einen kleinen Umtrunk im Anschluss. Doch Nelson hat für alle ein Mittagessen im Phoenix organisiert. Und obwohl Pater Hennessey sich sichtlich Mühe gegeben hat, die Sache schlicht zu halten – er ist beispielsweise nicht in vollem Ornat erschienen –, hat doch das Sakrament selbst etwas Bombastisches an sich, auch wenn man es aufs Wesentliche reduziert.
«Widersagt ihr dem Satan … und all seiner Bosheit … und all seinen Verlockungen?»
Ruth fiel auf, dass Cathbad auffallend still blieb, als den Paten diese Fragen gestellt wurden. Nelson hingegen hat volltönend mit «Ich widersage» geantwortet. Es war fast wie bei einer Hochzeit.
«Glaubt ihr an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde? Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel?»
Schwierige Frage, hat Ruth sich gedacht. Doch auch diesmal antwortete Nelson vernehmlich mit «Ich glaube». Michelle und Shona neben ihm murmelten
Weitere Kostenlose Bücher