Gezeitengrab (German Edition)
rauszuholen.»
«Der junge Mann hier hat Ihnen das Leben gerettet», wirft der Sanitäter ein. «Er hat Sie aus dem Meer gezogen. Und als wir ankamen, hatte er Ihnen schon Mund-zu-Mund-Beatmung gegeben.»
Nelson schließt die Augen wieder. «Am besten erschießen Sie mich gleich», brummt er.
Der Sommer war fast zu Ende. Auf einigen Feldern wuchs das Korn, doch niemand war da, um es zu ernten. Ein paar der freiwilligen Helfer versuchten, sich zu Gruppen zu organisieren und das Heu einzubringen, aber keiner wusste so recht, wie das ging, und auch die meisten Höfe waren bis auf die Grundmauern abgebrannt.
Je kälter es wurde, desto ungemütlicher wurde es auch im Hotel. Nachts pfiff der Wind durch die kaputten Fensterscheiben, und Ruth bibberte in ihrem dünnen Schlafsack. Sie wusste, sie musste bald wieder nach Hause zurück; demnächst fing die Uni wieder an, und irgendwo wollte sie ja auch heim und wieder in einem richtigen Bett schlafen, fernsehen, etwas anderes essen als Reis und Bohnen. Doch ein sehr viel stärkerer Teil in ihr wollte bleiben. Jede Woche kamen Nachrichten von neuen Massengräbern. Erik war überall, er fuhr im offenen Jeep herum wie Che Guevara, einen Schal vor dem Mund, um den Staub abzuhalten, und spornte die Freiwilligen an, stritt mit den Behörden, kredenzte seinen müden Truppen gläserweise gestohlenen Wein, lobte, ermunterte, bemitleidete. Er hatte für jeden Einzelnen ein besonderes Wort. Wenn er Ruth sah, wurde sein eisblauer Blick sanft, und er sagte: «Was würde ich bloß ohne meine Ruthie machen?» Und Ruth, verfroren, erschöpft und halb krank von all dem Leid, das sie tagtäglich erleben musste, erstrahlte in der Wärme seiner Anerkennung.
Tatjana wurde immer stiller, als der Sommer in den Herbst überging. Manchmal glaubte Ruth, sie hätte alle Hoffnung aufgegeben, Jakob noch zu finden. Doch sie weinte weiterhin jede Nacht, und wenn Leute aus dem Süden kamen, fragte sie sie immer noch aus. Sie schien nur keine Antworten mehr zu erwarten.
Ende September fuhr eine kleine Abordnung, darunter auch Ruth und Tatjana, in eine Stadt in der Nähe von Mostar, der Hauptstadt der neuen Herzegowina. Es gab Gerüchte über ein Grab in der Nähe eines großen Flüchtlingslagers. Die Kinder aus dem Lager hatten beim Spielen angeblich Menschenknochen gefunden.
Es war Ruths erster Besuch in einem dieser berüchtigten Lager, und als ihr Laster langsam zwischen den Zeltreihen hindurchfuhr, von aufgeregten Kindern verfolgt, war sie erleichtert, dass es längst nicht so schlimm war, wie sie befürchtet hatte. Die Leute verhielten sich ruhig, das Rote Kreuz verteilte Essen von einem seiner Wagen aus, und es gab sogar einige Versuche, zur Normalität zurückzukehren: Ein paar Jungs spielten Fußball, Frauen hängten Wäsche auf die Leine, am Fluss spielten Kinder.
Tatjana neben ihr war starr vor Anspannung. Als eines der Kinder versuchte, seitlich am Wagen hochzuspringen, schrie sie auf.
«Was ist denn?», fragte Ruth.
«Nichts.»
Auf einem Hügel nördlich des Lagers fanden sie die ersten Knochen. Heftige Regenfälle hatten das Erdreich weggeschwemmt, und die Knochen lagen nun tatsächlich unter freiem Himmel und trieben sogar in dem Fluss, der an das Lager grenzte. Drei Tage lang sortierten und katalogisierten die Archäologen und versuchten, die Toten zu identifizieren. Es war Weideland, und unter die menschlichen mischten sich auch Tierknochen, doch alles deutete auf ein Massaker hin. Männer, Frauen und Kinder lagen alle durcheinander in dieser flachen Grube.
Im Lauf der Tage zog sich Tatjana immer mehr in sich zurück. Sie arbeitete gut wie immer, doch abends sonderte sie sich ab, saß in ihren Mantel gehüllt und schien tief in Gedanken.
Dann, am vierten Tag, kam Ivan, der Fahrer, mit der Nachricht ins Camp gestürzt, dass eine Gruppe serbischer Rebellen in der Gegend sei. Sie hätten die Kirche niedergebrannt und seien nun unterwegs zum Flüchtlingslager. Während er noch sprach, sahen sie hinter den Bäumen Rauch aufsteigen, eine schwarze Wolke am Abendhimmel.
Ruth weiß noch, dass sie nie zuvor solche Angst gehabt hat. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte sie gelebt, ohne je in echte Gefahr für Leib und Leben geraten zu sein. Sie hielt nicht viel von Extremsportarten, und dem Tod war sie vermutlich am nächsten gekommen, als sie sich den verdorbenen Kebab bei dieser zwielichtigen 24-Stunden-Döner-Bude gekauft hatte. Doch jetzt war eine Bande todbringender Schurken auf dem Weg
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