Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
da. Die hochgradig aufgescheuchte Sekretärin bot uns an, die Polizei zu verständigen.
«Ich gehe erst noch mal nach Hause», sagte Melanies Mutter mit zittriger Stimme. «Wenn sie nicht da ist, dann …»
Zehn Minuten später rief sie an. Sie weinte und lachte vor Freude, denn sie hatte ihre Tochter zu Hause auf der Couch schlafend vorgefunden. Jetzt war Melanie natürlich hellwach, denn ihre Mutter hatte sie in der ersten Erleichterung mit Ohrfeigen und Küssen aus dem süßen Erschöpfungsschlummer gerissen.
Melanies Mutter drückte ihrer Tochter den Telefonhörer in die Hand. Madamchen heulte. Sie hatte sich doch bloß ein bisschen versteckt! Ja, sie hat gehört, dass wir sie riefen. Sie wollte uns doch nur ärgern, weil sie sich mit den Mädchen gestritten hatte. Und dann waren wir auf einmal weg. Den ganzen Weg musste sie alleine zurückgehen. Sie hatte so Angst gehabt!
Das war das letzte Mal, dass ich ohne eine weitere Begleitperson mit einer Klasse auch nur einen Fuß aus dem Schulhaus gesetzt habe.
Apokalypse now [1]
Herrlich! Im Lehrerzimmer herrscht heute Nachmittag, eine Stunde vor der ersten Zeugniskonferenz, eine Stimmung wie vor einem Fußballendspiel. Die Kollegen sind total aufgekratzt und gleichzeitig angespannt. Das liegt daran, dass sich alle freuen, weil die olle Notenbastelei bald vorbei ist, aber jeder im letzten Moment noch schrecklich viel zu tun hat. Man muss, zum Beispiel, nach verlorengegangenen Noten fahnden, die, warum auch immer, nicht dastehen, wo sie sollen, nämlich in den Zeugnislisten. Oder die Kollegen bequatschen, bei dem einen oder anderen Schüler ein Notenpünktchen draufzulegen.
Alle drängeln sich um die wenigen Computer, um abermals einen Blick in das Zeugnisprogramm zu werfen. Es wird gelacht und gefragt, geschimpft und hin und her gerannt, ein bisschen getratscht, und zum Überfluss wuselt dazwischen noch ein Techniker herum, der ausgerechnet jetzt einen neuen Drucker installieren muss. Bei all dem entwickelt sich eine prima Das Imperium schlägt zurück -Atmosphäre, und mitten hinein platzt die Polizei mit einem meiner Jungs. Na danke!
Fuat ist nach dem Unterricht beim Klauen im Edeka-Laden erwischt worden. Nach Feststellung seiner Personalien zieht er mit hängendem Kopf in Begleitung des Polizisten ab nach Hause. Die Kollegen wenden sich wieder ihren Noten zu.
Meine Schüler sind ebenfalls aus dem Tritt: Heute Nachmittag haben sie schulfrei, hängen auf dem Hof in der Sonne ab und verbreiten Ferienstimmung. Sie wissen, dass gleich Versetzungskonferenz ist, und selbst die Allerletzten haben nun endlich gecheckt, dass die Messe gelesen beziehungsweise das Freitagsgebet gesprochen wurde. Selbst die «Guten» hatten sich schon den ganzen Morgen erfolgreich gegen jede Form der Arbeit gewehrt: «Was, Text lesen? Krieg ich keine Note mehr für.»
Einzig Ali und Turgut waren in Hektik (zum ersten Mal in diesem Schuljahr). Sie sind so oft sitzengeblieben, dass sie bei uns keinen Schulabschluss mehr machen können. Seit Monaten predige ich, sie sollen sich endlich an einer Projektschule anmelden. An solch einer Schule wird hauptsächlich praktisch gearbeitet, da haben sie vielleicht noch eine Chance. Letzten Donnerstag hatten sie endlich dort einen Vorstellungstermin. Um 16 Uhr. Aber weshalb überstürzt und vor allem pünktlich in diese Opferschule gehen? Abo, voll gemein, dass das Sekretariat geschlossen war, als die beiden gegen 17 Uhr mit Ali-Papa ankamen. Und jetzt will dieser Opferschulleiter der Projektschule auch noch alte Zeugnisse sehen. Vallah, woher soll man wissen, wo die sind? Also kamen die beiden erst mal heute Morgen viel zu spät zum Unterricht («Musste Zeugnisse suchen, hab aber sie nich gefunden!» O-Ton Ali), schlichen dann zur Sekretärin, ließen sich Kopien von alten Zeugnissen machen und schlugen schließlich wieder bei mir auf, aber nur um sich abzumelden. Sie müssten, wie sie behaupteten, sofort in die neue Schule gehen.
Ich war entsetzt, die Kopien sahen schon aus wie Altpapier. Ich suchte nach Plastikhüllen, um den Schaden zu minimieren, aber Turgut winkte ab: «Was Hüllen! Brauche ich nicht schwule Hülle!» Ali führte mir noch vor dem Abgang rasch sein neues Käppi vor. «Voll Jäckpott, wa?» Ist grün jetzt modern? Na, Hauptsache, es gefällt den Mädchen an der neuen Schule.
Die Zeugniskonferenz wäre übrigens ziemlich langweilig gewesen, wären nicht so viele Schüler meiner Klasse sitzengeblieben. Aber keine Angst!
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