Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
Löw sein). Auf dem Weg zur Aula rede ich die ganze Zeit auf ihn ein, damit er bloß nicht auf die Idee kommt, in letzter Minute abzuspringen.
«Es sind ja nur ein paar kleine Sätzchen, die du sagen musst. Du wirst sehen, das macht dir voll Spaß. Du rettest uns, das ist suuuuuuper! Und die anderen sind alle total nett, die helfen dir.»
Tür auf, rein in die Aula, acht Augenpaare nageln sich auf Hassan fest. Ich denke: Jetzt sind die aber alle froh, dass Rettung naht. Da fährt Jenny ihren spitzen Zeigefinger in Richtung Hassan aus und schreit: «Der ist voll schwul, ich schwöre, voll schwul!»
Hassan dreht sich auf dem Absatz um und rennt aus der Aula raus. Ich hinterher. Fluchend. Diese blödsinnige Jenny! Schon letztes Jahr hat sie uns die Vorstellung vermasselt! Na, warte, Frolleinchen, dir werd ich nachher was erzählen!
Kurz vor seinem Kursraum erwische ich Hassan. Der darf da nicht rein, sonst ist es aus. Ich werfe mich vor die Tür und flehe ihn an, mit zurückzukommen. Aber er will nicht mehr.
«Nee», sagt er, «jetzt hab ich keine Lust mehr. Echt. Tut mir leid, Frl. Krise.»
Verdächtigt, schwul zu sein, ist in den Augen unserer Jungs fast das Schlimmste, was ihnen passieren kann. Niedergeschlagen trotte ich langsam zurück in Richtung Aula. Ich werde diesen Theaterkurs abgeben, nehme ich mir vor, heute noch, mir reicht es. Egal was Schulleiter Fischer dazu sagt.
Resigniert setze ich mich auf die Treppe. Mathe, am besten unterrichte ich nur noch Mathe, da passiert einem so etwas nicht. Oder Handarbeit, gibt’s das noch? Socken stricken. Frau Freitag kann das, die bringt mir das bei. Dann lernen die Mädchen wenigstens was Vernünftiges. Vielleicht kann ich auch im Sekretariat aushelfen. Akten zerschreddern, Kaffee kochen. Oder dem Hausmeister zur Hand gehen, den Hof fegen und im Schulgarten den Komposthaufen umsetzen. Hauptsache, kein Theater. Nie wieder Theater!
Jemand tippt mir leise auf die Schulter!
Hassan.
HASSAN? Ich springe auf. Wir grinsen uns an.
So wurde es doch noch eine Superprobe! Hat voll Spaß gemacht! Hassan ist richtig begabt! Alle waren von ihm begeistert! Sogar Jenny!
Ich sag’s doch immer, die kreativen Fächer sind die besten!
Voll motiviert
Was ist mit meinen Schülern los? Ich verzweifele langsam. Nicht nur dass 39,13 Prozent des Personals meiner Klasse sitzenbleibt (jawohl, ich habe es nach der Konferenz genau ausgerechnet!), nein, es interessiert sie auch wenig. Gut, sie wissen seit Monaten, dass es darauf hinausläuft. Wenn man in zehn von dreizehn Fächern fünf und schlechter steht, kann man nicht erwarten, dass man am Ende des Schuljahrs den Schul-Oscar für Fleiß, Engagement und Strebertum bekommt. Aber einer von ihnen – Erkan – kann es noch schaffen. Sein Notenbild ist nicht so schlecht wie das der anderen. Wenn er eine Fünf ausbügelt, könnte man ihn versetzen. Er darf und kann und soll eine Nachprüfung machen! So wurde es auf der Zeugniskonferenz beschlossen. Ja!
Noch einmal versuche ich ihm das Prozedere zu erklären: Wir, seine ihm trotz allem wohlgesinnten Lehrer, schlagen ein Fach für die Nachprüfung vor. Die Entscheidung darüber, welches er letztlich wählt, liegt jedoch bei ihm und seinen Eltern.
Erkan hat bei mir in Bio und Deutsch eine glatte Fünf. Ich würde ihn gern in Deutsch prüfen, da sehe ich noch die größten Chancen. Natürlich will ich ihn gleich beraten, aber Erkan steht der Sinn mehr nach großer Pause; seine Kumpel rufen ihn schon. Er ist ungeduldig, zieht nervös an seiner übergroßen Hose, die ihm fast in den Kniekehlen hängt, zappelt. Ich kann ihm gerade noch sagen, dass seine Eltern einen Brief mit unserem Vorschlag bekommen, den er mir unterschrieben mitbringen soll, da ist er wie ein geölter Blitz aus der Tür heraus und springt in Riesensätzen die Treppe hinunter.
Den Brief mit meinem Vorschlag gebe ich am selben Tag in die Schulpost.
Das mit dem Sichentscheiden und Unterschreiben und dem Wiedermitbringen dieses Schreibens scheint aber schwierig zu sein, jedenfalls für Erkan. Ich frage deshalb nach, in welchem Fach der gnädige Herr denn nun wünscht geprüft zu werden. Wir müssen uns ja schließlich vorbereiten.
«Biologie», sagt Erkan.
Biologie? Nicht Deutsch? Na schön, Biologie. Erkan lässt sich nicht beraten. Was soll’s, des Menschen Wille ist sein Himmelreich.
Wir haben gerade Bio, und so suche ich ihm gutwillig ein schönes Buch heraus, das er über die Ferien mit nach Hause nehmen kann,
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