Ghosts 01 - Ghosthunter
hätte. Im Laufen peilte sie die große, mit Werbung zugeklebte Drehtür an, die in die Freiheit führte. Durch die Ritzen zwischen den Plakaten konnte sie bereits den Strom von Passanten auf der Straße sehen, den zähen Brei aus einkaufswütigen Teenagern, Cosplay-Verrückten und fliegenden Händlern. Ein bunter und steter Fluss aus Menschen, in dem sie wie ein Koi untertauchen konnte.
Schnell holte sie aus der aufgenähten Tasche ihres Minirocks die Widerstände heraus, die sie heimlich eingesteckt hatte. Es waren sechs winzig kleine Bauteile für eine Platine, die sie am Wochenende zusammenlöten wollte. Ersatzteile im Wert eines halben Cheeseburgers. Verfluchte Kameras.
Chiyo wollte sie schon wegwerfen, zögerte aber, ihre Beute so leicht aufzugeben. Mit der freien Hand packte sie ein Regal mit Spielzeugrobotern und riss es hinter sich um. Sie musste lächeln, als sie das Fluchen der Wachmänner hörte, die um ein Haar über das Regal gestolpert wären.
Noch elf Meter, noch zehn Meter.
Ein alter Herr in Trenchcoat und mit buntem Regenschirm, den er offenbar als Sonnenschutz benutzte, betrat das Elektronik-Kaufhaus. Verdutzt blieb er in der Tür stehen, als Chiyo auf ihn zuschoss.
„Weg da!“, rief sie und ließ die Widerstände zurück in ihre Rocktasche fallen. „Aus dem Weg! Schnell!“
Endlich begriff der Mann und trat einen Schritt zur Seite.
Noch sieben Meter, noch sechs.
Das Gebrüll des dicken Koreaners übertönte alle anderen Geräusche. Der Kaufhausdetektiv war viel lauter als seine Kollegen. Instinktiv riss Chiyo den Kopf zur Seite.
Das Letzte, was sie sah, bevor sie getroffen wurde und vor dem Mann mit dem bunten Regenschirm zu Boden ging, war der Schlagstock des Koreaners.
9
„Hier.“ Tan reichte Zachary einen großen Schraubenschlüssel, den er im Kofferraum beim Reserverad gefunden hatte. Mehrmals schlug Zachary damit auf die drei Verschlüsse der Kiste ein, doch keiner wollte aufspringen. Am liebsten hätte er die Kiste vom Wagendach genommen und in den Ottawa River geworfen.
So schnell es ging, waren sie mit ihrem Wagen zurück auf den Trans-Canada-Highway gefahren und hatten erst zwanzig Meilen später bei einer einsamen Tankstelle kurz vor Ottawa gestoppt, um die Kiste zu öffnen. Zachary hatte den Wagen an den beleuchteten Zapfsäulen vorbeigelenkt und auf dem hintersten Parkplatz gehalten, mehr oder weniger verborgen vor neugierigen Blicken.
„Warte mal.“ Mit seinem Revolver zielte Tan direkt auf eines der beiden Warnschilder der Metallkiste. Zachary schlug ihm die Waffe aus der Hand. „Reicht es nicht, dass du ihn umgebracht hast?“, fuhr er den Jungen an und stieß Tan wütend gegen die Fahrertür. „Du weißt doch gar nicht, was da drin ist. Mein Gott, Tan. Die Zeichen kleben da doch nicht aus Spaß.“
Tan winkte ab. „Was soll’s.“ Aggressiv schlug er nach der Kiste. Entsetzt schrie Zachary auf, als sie über das Wagendach rutschte und die Windschutzscheibe hinunterglitt. Kaum war sie auf die Motorhaube geschlittert, ertönte ein nüchternes KLACK. Alle drei Schlösser waren aufgesprungen. Tan lachte und kassierte einen bösen Blick von Zachary.
Dass die Schlösser von selbst aufschnappten, hinterließ ein ungutes Gefühl bei Zachary. Dennoch drückte er die Metallbügel auf und begann, mit langen Armen den Deckel zu öffnen. Obwohl er wusste, dass er sich nicht würde retten können, wenn sie eine zweite Bombe enthielt, klappte er die Kiste behutsam mehr und mehr auf.
Doch es war keine Bombe.
Kalter Dampf schlug ihm entgegen. Die Kiste war mit dicken Metallplatten isoliert und ihr Inhalt gefroren. In einem altertümlichen Futteral aus Velours und Stroh steckten, durch Holzplättchen voneinander getrennt, Gläser. Zur Sicherheit hatte man sie mit Holzwolle gepolstert.
„Was zum …“, entfuhr es Zachary. Misstrauisch zog er eines der eiskalten Gläser heraus. Bisher hatte er solche Gefäße nur in der Apotheke gesehen. Sie waren kaum größer als sein Daumen, dunkelbraun und mit einem Papieraufkleber versehen. Er wischte eine hauchdünne Eisschicht beiseite und las:
Probe 434, 12. November 1943. Patient Peter David Brown, P01 – Aktennummer: 0345/12. US Navy.
Zachary hielt das Glas, das mit mehreren Schraubverschlüssen gesichert war, in das Standlicht ihres Wagens. Unheimlich glomm die gefrorene Probe auf. War das Blut? Durch die braune Farbe des Glases, das mit Eis überzogen war, vermochte er es nicht zu sagen. Behutsam steckte er die Ampulle
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