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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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fast beim Mercedes, als sie bemerkte, wie zwei Sicherheitsleute aus dem Gebäude kamen und sie in vollem Tempo verfolgten. Allerdings fuhr in diesem Augenblick ein Auto vorüber, so dass sie zunächst zurückbleiben mussten, wodurch Bernhard und sie wiederum eine oder zwei wertvolle Sekunden gewannen … die entscheidenden Sekunden, wie sie bereits in diesem Moment wusste. Als die automatische Verriegelung des Wagens die Tür freigab, schob sie den Schlüssel über das Dach zu Bernhard auf die Fahrerseite. Sie stieg ein, und während sie im Rückspiegel sah, wie die beiden Wachmänner auf sie zurannten, hatte Bernhard die Mappe hinter sich auf den Rücksitz geworfen, die Türen verriegelt und den Wagen gestartet. Als die Wachmänner den Wagen erreicht hatten und sich an dessen Türgriffen mehr oder weniger sinnlos zu schaffen machten, beschleunigte Bernhard rückwärts auf die Straße, brachte ein anderes Auto dazu, unter an- und abschwellendem Hupen auszuweichen, und trat das Gaspedal durch, während Carmen lustvoll spürte, wie sich vor Erregung ihre Wangen, ihre Lippen und überhaupt jeder durchblutungsempfindliche Teil ihres Körpers in ein hochempfindliches Sinnesorgan verwandelten.
    Nichts kann uns aufhalten , dachte sie.

5
    Vom Flughafen war sie damals, in jenen Kindertagen, mit ihrem Vater in ein Hotel gefahren. Es war bereits spät am Abend gewesen, die Empfangshalle leer. Sie erinnerte sich nicht mehr klar und eindeutig daran, wie es dort gewesen war, nur noch an die Stille und das weiche Einsinken ihrer Schritte auf den Teppichen und dass sie gedacht hatte, dass dies also der   Westen   sei, jene halb sagenhafte Hemisphäre, die für sie bisher fast ausschließlich als Wort existiert hatte und von der sie weder etwas erhoffte noch fürchtete. Ein Hotel am späten Abend, schien ihr, war hier nichts anderes als in ihrer alten Heimat … außer vielleicht, dass Uniformen und Mobiliar keinerlei Patina trugen, alles wirkte kantig und zeitgemäß. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater ihr erlaubt hatte, angesichts ihrer Müdigkeit ohne abendliche Wäsche und Zahnpflege ins Bett zu gehen, und wie er sich wenig später zu ihr legte. Ganz entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten ließ er die kleine Lampe auf dem Nachttisch brennen, als sie in den wohlriechenden, gestärkten Laken langsam dem Schlaf und einer neuen, ungewissen Freiheit entgegendämmerten. Und sie erinnerte sich, wie sie sich schläfrig über dieses Nachtlicht wunderte und sich, plötzlich zum ersten Mal ängstlich, fragte, ob es ein Zeichen dafür sein könnte, dass ihr Vater diese Freiheit womöglich   fürchtete  …
    Und so wenig sie damals gewusst hatte, welchen Plan die Not ihrem Vater eingegeben hatte, so sicher war sie heute, dass bei Bernhard von keinerlei Plan die Rede sein konnte. Immer deutlicher hatte sie in den letzten Stunden erkannt, dass er seit Tagen, vielleicht schon seit Wochen nicht mehr Herr der Lage war. Er hatte den Wagen, nachdem sie Gibraltar und dann La Línea unbehelligt über eine Durchgangsstraße verlassen hatten, über schlecht ausgebaute Nebenstraßen gesteuert, in der Überzeugung, nach ihrer Flucht aus der Bank verfolgt worden zu sein … Doch sie hatte den ganzen Weg über den Rückspiegel im Auge behalten und war bereit zu schwören, dass niemand wissen konnte, wo sie waren, noch, wohin sie fuhren … niemand, inklusive ihr selbst.
    Seine Reizbarkeit hatte einen Höhepunkt erreicht, als sie ihn höflich gebeten hatte, das Fenster zu öffnen, da sie von seiner ständigen Raucherei Kopfschmerzen bekam. Er hatte die noch beinahe volle Schachtel wortlos in seiner Faust zerdrückt und aus dem Fenster geworfen, was sie in seiner sinnlosen Überzogenheit geradezu beschämte.
    So weit das Auge reichte, sah sie nichts als ineinandergreifende Hügelketten, bewachsen mit kargem Sumach, Halfagras und dornigen, fruchtlosen Sträuchern. Vor hundert Jahren, dachte sie, war Spanien ein zusammenhängendes Waldgebiet aus Kork- und Steineichen gewesen, so dicht, dass ein Eichhörnchen es von den Pyrenäen bis Gibraltar durchqueren konnte, ohne den Boden zu berühren … Nun waren die einzigen Überreste in dieser Steppe, die an Bäume erinnerten, verkohlte Stümpfe, die einige der Hänge säumten, an denen sie vorübergefahren waren.
    Nach etwa einer halben Stunde quittierte, ohne Ankündigung und wie zum äußerlichen Zeichen der Anfälligkeit ihrer Lage, der Motor des Mercedes mit einem langgezogenen mechanischen

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