Ich Töte
Erster Karneval
Der Mann ist einer und keiner. Seit Jahren trägt er sein Gesicht an den Kopf geklebt, und sein Schatten haftet an seinen Füßen, und noch immer ist es ihm nicht gelungen herauszufinden, was schwerer wiegt: das Gesicht oder der Schatten. Manchmal überkommt ihn das ununterdrückbare Verlangen, beides herunterzureißen und an einen Nagel zu hängen und einfach da sitzen zu bleiben, auf dem Boden, wie eine Marionette, durch eine barmherzige Hand von ihren Fäden geschnitten.
Manchmal löscht die Müdigkeit alles aus und verhindert die Einsicht, dass die einzig logische Konsequenz darin besteht, die Zügel fahren zu lassen und sich ohne Gegenwehr dem Weg des Wahnsinns zu überlassen. Um ihn herum ist alles eine ewige Abfolge von Gesichtern und Schatten und Stimmen, von Leuten, die keine Fragen mehr stellen und ohne Gegenwehr ein Leben hinnehmen, das keine Antworten bietet auf die Beschwerlichkeiten und die Schmerzen der Reise, und denen es genügt, hie und da eine dämliche Postkarte zu schicken.
Überall ist Musik, sind Körper, die sich bewegen, Münder, die lachen, Worte, die gewechselt werden. Und er steht mitten unter ihnen, ist einer mehr für die Neugierde desjenigen, der eines Tages auch diese Fotografie verblassen sehen wird.
Der Mann lehnt an einer Säule und denkt, dass sie alle nutzlos sind.
Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Raumes, sitzen nebeneinander an einem Tisch in der Nähe der großen Glastür, die zum Garten hinausführt, zwei Personen, ein Mann und eine Frau.
In dem schummrigen Licht erscheint sie zierlich und sanft wie die Melancholie. Sie hat schwarzes Haar, und ihre Augen sind grün, so leuchtend und groß, dass sie sogar von hier zu erkennen sind. Er hat nur Augen für ihre Schönheit und spricht ihr ins Ohr, um sich über den Lärm der Musik hinweg verständlich zu machen. Sie halten einander an den Händen, und sie wirft lachend den Kopf zurück oder verbirgt ihr Gesicht an seiner Schulter.
Gerade erst hat sie sich umgewandt, irgendwie berührt vielleicht vom starrenden Blick eines Mannes, der sie an eine Säule gelehnt beobachtet, Quelle eines fernen Unbehagens. Ihre Augen haben sich getroffen, doch die ihren sind ebenso unbeeindruckt über sein Gesicht hinweggeglitten wie über den Rest der Welt, der sie umgibt. Sie 6
hat das Wunder dieser Augen erneut dem Mann geschenkt, mit dem sie dort sitzt, und er hat ihre Blicke mit derselben Intensität erwidert, unempfänglich für jede Botschaft außer ihrer Gegenwart.
Sie sind jung, schön, glücklich.
Der Mann an der Säule denkt, dass sie bald sterben werden.
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Jean-Loup Verdier drückte auf die Fernbedienung, und erst, als das Rolltor schon halb geöffnet war, ließ er den Motor an, um die giftigen Abgase in der engen Garage nicht einzuatmen. Das Licht der Scheinwerfer löste sich allmählich von der emporsteigenden Metallwand und durchbrach den schwarzen Schirm der Dunkelheit vor ihm. Er stellte den Knüppel der Automatikschaltung auf Drive , tippte, sobald das Tor vollständig offen war, leicht aufs Gas und lenkte den SLK langsam nach draußen. Er hob die Fernbedienung hoch über den Kopf und drückte die Taste für den Schließmechanismus.
Während er auf das Klong wartete, mit dem das Tor einrastet, betrachtete er das Panorama, das sich vor dem Hof seines Hauses auftat.
Monte Carlo lag über dem Meer wie ein Bett aus Zement. Die Stadt vor seinen Augen hatte fast keine Umrisse, sie war eingehüllt in einen leichten, feuchten Dunst, der die Lichter des Abends zurückwarf. Etwas unterhalb, schon auf französischem Staatsgebiet, leuchteten die Spielfelder des Country Clubs, wo wahrscheinlich irgendein Star des internationalen Tenniszirkus trainierte, direkt neben dem aufgereckten Finger des Parc Saint-Roman, einem der höchsten Wolkenkratzer der Stadt. Weiter unten in Richtung Cap d’Ail, unter dem Altstadtfelsen, konnte man das Viertel Fontvieille ausmachen, Meter für Meter, Stück für Stück dem Meer entrungen.
In einer einzigen Bewegung zündete er sich eine Zigarette an und schaltete Radio Monte Carlo ein. Während er den Wagen auf die Zufahrt zur Straße lenkte, öffnete er mit der Fernbedienung das Tor.
Er bog nach links ab und genoss die milde Luft des ausgehenden Mais, während er langsam zur Stadt hinunterrollte.
Aus dem Radio kam Pride , ein Stück von U2, unterlegt mit diesem unverwechselbaren Gitarrenrhythmus. Er lächelte. Stefania Vassallo, die Musikredakteurin, die um diese Zeit
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