Giebelschatten
wie ich gestehen muß. Im Heftroman sollte die Meßlatte nicht Charles Dickens sein, aber einige Details mehr hätten es sicher sein dürfen. So konzentriert sich das Geschehen allein auf das Haus der Familie Muybridge, die restliche Stadt existiert lediglich als kurze Erwähnung des East Ends.
Was mir nach wie vor gut an dieser Erzählung gefallt, sind einige Situationen, gewisse Charaktere und ihre Reaktionen (etwa die kurzlebige Leidenschaft der Muybridge-Eltern für fleischfressende Pflanzen) und das Setting einzelner Szenen. Meine Leidenschaft für ausgedehnte Dachlandschaften – die wohl zu gleichen Teilen auf Peakes GORMENGHAST-Trilogie und auf die wunderbare Schornsteinfeger-Sequenz in MARY POPPINS zurückgeht –, findet sich in vielen meiner Bücher wieder. In DAS HAUS DES KUCKUCKS aber fröne ich ihr zum erstenmal, eine hoffentlich interessante Premiere.
GRAND Guignol 1899 verdankt dem Genre der italienischen Giallos, stilvollen Filmthrillern der siebziger Jahren von Regisseuren wie Mario Bava und Dario Argento, mindestens ebensoviel wie der Gothic Novel. Übrigens taucht auch der titelgebende Schauplatz dieser Novelle, das historische Thiatre du Grand Guignol, noch einmal in einem Kapitel der ALCHIMISTIN auf.
Der Titel des Bühnenstücks, in dem die Heldin der vorliegenden Erzählung die Hauptrolle spielt, ist natürlich eine Hommage an Hubert Straßl alias Hugh Walker, dessen Roman DIE BLUTGRÄFIN, wie auch einige seiner übrigen, durchaus als Klassiker deutscher Phantastik angesehen werden darf. Mögen manche Stellen von GRAND GUIGNOL 1899 heute auch etwas moralinsauer erscheinen, angesichts des damaligen Standards der Heftromane war vieles darin sicherlich recht gewagt – man muß der Lektorin zugute halten, daß sie gerade mit den S/M-Elementen vergleichsweise behutsam umgegangen ist. Lediglich das Ende und die Andeutung, die darin mitschwingt, waren ihr wohl zu subtil – wurde dort bei der Erstveröffentlichung doch rigoros gestrichen, damit dem Glück der Hauptfiguren nichts im Wege steht. Keine andere Änderung hat mich damals so aufgebracht wie diese, und ich bin froh, sie endlich berichtigen zu können.
Dank gebührt an dieser Stelle Frank Festa, der sich ungemein für dieses Projekt einsetzte, und natürlich Dieter Jüdt, der nach unserer Zusammenarbeit an meinem Roman DAS GELÜBDE auch diesen Band so großartig illustriert hat. Wer seine Bruno-Schulz-Adaption HEIMSUCHUNG noch nicht kennt, sollte das umgehend nachholen. Sofort.
Viel Vergnügen
Kai Meyer, Januar 1998
Das Haus des Kuckucks
1.
In der Nacht, bevor Christopher ins Haus der Muybridges kam, träumte Gwen von Finsternis und Einsamkeit, und als ihr Geist den melancholischen Visionen schließlich entschlüpfte wie eine Friedhofsblume dem Grab, da fand sie sich allein im Ostflügel des Gemäuers – in Finsternis und Einsamkeit.
Es geschah nicht oft, daß sie schlafwandelte, aber noch viel seltener kam es vor, daß sie den Ostflügel betrat, ganz gleich, ob schlafend oder wach. Um so überraschter, ja entsetzter war sie, daß der Schlaf sie mit seinen Rabenschwingen in dieser Nacht hierher getragen hatte, in jenen dunklen Teil des Hauses, der seit Jahren verlassen war, und den allein alte, staubige Möbel bevölkerten, träumend unter Leinentüchern aus brüchigem Weiß, die ihnen die erstarrte Gestalt kauernder Gespenster gaben.
Gwen blinzelte in die Dunkelheit und sah Konturen von Dingen, die sie nicht erkennen konnte, roch die abgestandene, tote Luft der menschenleeren Räume und glaubte zu fühlen, daß die Nacht hier drinnen viel mehr war als die Abwesenheit von Tageslicht, daß die Schatten und die Finsternis in diesen Wänden lebten und atmeten. Warteten. Auf sie.
Der Ostflügel – Ort so vieler Geheimnisse und Rätsel ihrer Kindheit, vergessenes Tabu ihrer Jugend.
Niemand im Hause Muybridge betrat ihn jemals, so als gäbe es ein unausgesprochenes Verbot, die meterhohe, schwarz lackierte Tür im Treppenhaus zu durchschreiten, die der einzige Zugang zu diesem Abschnitt des Gebäudes war. Selbst als Kind hatte sie diese geheimnisvolle Regel akzeptiert, und auch ihre beiden jüngeren Schwestern, Miranda und Nicole, achteten stillschweigend das Gebot der Familie. So lag der Hauch des Toten, des Verlassenen wie ein feiner Schleier über dem Ostflügel, scheinbar leicht und locker gewoben, in Wahrheit aber eine Sperre so fest wie Granit.
Bis heute nacht.
Ihre Träume hatten Gwen wie ein
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