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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Eingangshalle, in deren Mitte sich eine breite Freitreppe gewunden in die oberen Stockwerke schraubte.
    Christopher glaubte nun, die Architektur des Hauses zu verstehen. Der ganze Bau war angelegt wie ein symmetrisches Kreuz, dessen vier Arme die Flügel bildeten. Die Treppe befand sich im exakten Mittelpunkt, und von ihr aus führten Flure und Korridore tiefer ins Haus.
    Eine spindeldürre Gestalt, sechs Fuß groß und in die schwarze Livree eines Butlers gekleidet, stelzte ihnen auf langen Storchenbeinen entgegen. Das Gesicht des Mannes war tief eingefallen und von ungesundem Grau, aus dem lang und zackig eine enorme Nase hervorstach, spitz wie der Schnabel einer Krähe.
    »Christopher, das ist Flagg, unser Butler. Ihm wirst du am Nachmittag zur Hand gehen.« Lady Muybridge lächelte süßlich, als Flagg sich erst in ihre Richtung verbeugte, dann vor ihn trat und ihm seine Hand reichte. Das Lächeln, das dabei über sein langes, kantiges Gesicht zuckte, ließ ihn kaum menschlicher erscheinen. Als Christopher nach seiner Hand griff, fühlte sie sich an wie ein trockenes Reisigbündel. Er war froh, als der Butler seine knochigen Finger zurückzog.
    Was für eine Kreatur! dachte er, und nahm sich vor, sich bei allem, was er tat, vor Flagg in Acht zu nehmen.
    »Wo ist Ines?« fragte die Lady.
    Herodes schnurrte auf ihrer Schulter und fuhr gähnend seine Krallen aus. Fasziniert beobachtete Christopher, wie das Tier mehrere dünne Risse in das Seidenkleid seiner Herrin zog, ohne daß diese sich daran störte.
    Flaggs rechte Augenbraue zuckte nach oben, und seine Züge schienen sich dabei noch weiter in die Länge zu ziehen. »Sie ist in der Küche und bereitet das Dinner vor, Mylady.«
    »Natürlich.« Sie wandte sich an Christopher. »Bis zum Abend wirst du alle, die hier im Haus leben, kennengelernt haben und –«
    Hastige Schritte auf der Treppe unterbrachen sie. Christopher blickte nach oben. Im letzten Moment unterdrückte er den Drang, anerkennend durch die Zähnen zu pfeifen, wie er es von der Straße gewohnt war.
    Ein junges Mädchen war auf der Treppe erschienen und blieb überrascht stehen, als sie ihn und die beiden anderen erblickte. Sie mochte in seinem Alter sein, vielleicht einige Monate, höchstens ein Jahr älter. Ihr langes, blondes Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem Knoten hochgebunden, nur über ihren Ohren pendelten kurze, gelockte Strähnen wie gewobenes Gold. Ihre Züge waren ebenmäßig und glatt, ganz anders als die der Straßenmädchen, die Christopher aus dem East End kannte.
    Wie konnte ein solches Geschöpf zwischen diesen Menschen leben?
    Lady Muybridge lächelte erfreut. »Gwendoline!«
     
    Gwen sprang die letzten Stufen hinunter und kam vor ihrer Mutter, Flagg und dem jungen Fremden zum Stehen.
    »Christopher«, stellte ihre Mutter ihn vor. »Und das ist Gwendoline, unsere älteste Tochter.«
    Gwen machte einen artigen Knicks, obwohl alles in ihr sich dagegen sträubte. Sie mochte es nicht, wenn alle Blicke auf ihr ruhten, und noch viel weniger gefiel ihr, dem Jungen gegenüber höflich zu sein. Sie bemerkte Herodes, der sie kalt aus seinen Kateraugen musterte, und ihre Laune sank.
    Christopher überragte sie um einen halben Kopf. Sein Haar war pechschwarz und wirr gewachsen, so daß sie bezweifelte, ob irgend jemand es je zu einer vernünftigen Frisur würde zusammenstutzen können. Irgend etwas war mit seinen Augen, sie waren dunkel und eine Spur zu groß, aber das war nicht alles, was ihr daran auffiel. Zweifellos waren sie schön, schöner als bei den meisten Jungen und Männern, die sie kannte, aber darunter, in den Pupillen, brodelte etwas, Gedanken und Gefühle, die sie niemals kennenlernen wollte.
    Sie haßte ihn vom ersten Augenblick an. Doch gleichzeitig faszinierte etwas an ihm sie auf rätselhafte Weise.
    Während sie noch darüber nachdachte, was der Grund für diesen Zwiespalt sein mochte, trat Martin aus dem Küchentrakt, blieb überrascht stehen, sah für einen winzigen Augenblick unsicher von einem zum anderen – wobei sein Blick wie immer einen Moment länger auf ihr verweilte als auf Flagg und ihrer Mutter – und kam schließlich auf sie zu.
    Gwen sah, daß er das gleiche fühlte wie sie, als er zum ersten Mal Christophers Blick kreuzte. Diese Augen…
    Sie wartete, bis auch er dem neuen Pflegekind ihrer Eltern vorgestellt worden war, dann wandte sie sich ab, ignorierte den tadelnden Blick ihrer Mutter und verließ die Halle durch die Tür, durch die Martin

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