Giebelschatten
Reichtum teilhaben können.«
»Reichtum?« wiederholte Martin unsicher.
Cullens Mundwinkel verzogen sich zu einem weiteren Lächeln, doch seine Augen blickten ernst und tadelnd. »Reichtum ist nicht immer gleichbedeutend mit Geld, mein Junge, auch wenn es in diesem Fall tatsächlich so ist. Lady Muybridge sucht jemanden, der ihrem Personal bei der Arbeit zur Hand geht und dafür in ihrem Haus wohnen und am Schulunterricht ihrer Töchter teilnehmen darf. Also eine Art Pflegesohn.« Der Priester nickte Martin zu. »Ich habe dich empfohlen.«
Von da an war alles ganz schnell gegangen. Ehe Martin sein Glück noch begreifen konnte, war er ins Haus der Muybridges aufgenommen worden, besuchte am Morgen gemeinsam mit der gleichaltrigen Gwen die Stunden der beiden Privatlehrer, arbeitete nachmittags an der Seite der Köchin Ines und des Butlers Flagg und spielte danach bis zum Schlafengehen mit Gwens jüngeren Schwestern. Das Zimmer, in dem er schlief, war keineswegs imposant, eher spartanisch, aber im Vergleich zu den Schlafsälen des Waisenhauses war die kleine Kammer ein Königreich.
Und Gwen? Nun, Martin hatte weder vor seiner Ankunft, noch in den fünf Jahren darauf ein Mädchen kennengelernt, das ihn mehr beeindruckt und fasziniert hätte als sie. Und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, manchmal, an den langen, einsamen Abenden bei Kerzenlicht in seinem Zimmer, dann mußte er zugeben, daß er bis über beide Ohren in sie verliebt war.
Aber es war eine Liebe, die keine Zukunft haben konnte; und eine einseitige noch dazu. Denn Gwen ließ sich viel lieber von den jungen Gentlemen der besseren Gesellschaft ausfuhren, als von dem schweigsamen Jungen, der nicht ganz ihr Stiefbruder, aber auch kein einfacher Bediensteter war.
Und nun sollte Christopher ins Haus kommen, eine East-End-Waise wie er selbst, und mit seinen sechzehn Jahren nur ein Jahr jünger. Mehr als den Namen hatte Lady Muybridge nicht verraten, und Martin war nervös wie selten zuvor, fast so, als wiederhole sich seine eigene Ankunft im Haus.
Aber da war noch mehr.
Er spürte tief in seinem Inneren ein dumpfes Pochen, ein unangenehmes Drücken zwischen seinen Eingeweiden, etwas, das er – wäre es nicht so albern gewesen – als Nervosität, vielleicht sogar als Angst bezeichnet hätte. Aber Angst wovor? Und warum?
Die Nacht war still, und das trübe Licht der Sterne, das durch das Fenster ins Zimmer fiel, tauchte die Möbel in kaltes Zwielicht. Irgendwo im Haus polterte etwas. Er hörte hastige Schritte auf der Treppe. War das Gwen?
Martin spürte, daß er zitterte. Ihm war, als umgäben ihn böse Vorzeichen, die er nicht deuten, nicht klar miteinander verbinden konnte.
Wie hätte er auch ahnen sollen, daß mit Christopher noch etwas anderes ins Hause Muybridge kam.
Er hatte nicht erwartet, daß das Haus so gewaltig sein würde.
Christopher stieg hinter Lady Muybridge aus der Kutsche und sah sich beeindruckt um. Mein neues Zuhause, dachte er benommen.
Das Gebäude ragte vier, nein, fünf Etagen in die Höhe, gekrönt von einem mächtigen schwarzen Dach aus steinernen Ziegeln, besetzt mit unzähligen Erkern und Gauben, die sich wie scharfe Adlerschnäbel gegen den grauen Himmel abhoben. Obwohl der Lärm der City deutlich zu hören war, machte der gesamte Bau eher den Eindruck eines aristokratischen Landsitzes, irgendwo draußen in den Weiten der britischen Grafschaften, als den eines Stadthauses, nur wenige Minuten vom Leicester Square und den Ufern der Themse entfernt.
»Willkommen«, sagte die Lady und nickte ihm aufmunternd zu.
Christopher mochte sie nicht. Ihre Augen strahlten eine klebrige Art von Güte aus, und noch vor Wochen hatte er Frauen wie ihr Geldbörsen und Schmuckstücke gestohlen; freilich ohne das Father Cullen es je bemerkt hätte, sonst wäre er kaum hier, ein Kuckuck im adeligen Nest.
Außerdem war da der aschgraue Kater, der wie eine haarige Gürtelrose um ihren Nacken lag, völlig reglos den listig blinzelnden Schädel auf der rechten, Hinterteil und Schwanz auf der linken Schulter. Erst hatte Christopher geglaubt, Lady Muybridge trage eine Stola, bis er schließlich bei näherem Hinsehen die Augen des eingerollten Ungetüms entdeckt hatte, gelb und funkelnd, so als blickten sie tief in sein Innerstes.
Die Lady schien seinen Blick zu bemerken, tätschelte liebevoll den Kopf des Tieres, flüsterte »Braver Herodes!« und ging dann voran zum riesigen Portal des Hauses.
Innen erwartete sie eine prächtige
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