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Gier

Gier

Titel: Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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wird. Dabei ist es erst Anfang April, die Leute haben sich ordentlich eingepackt. Dennoch scheint keiner von ihnen zu schwitzen. Keiner außer ihm.
    Der Schwitzende ist nicht gerade groß gewachsen, er kann kaum erkennen, was sich auf der Straße abspielt. Also muss er unbedingt noch näher heran. Er hastet vorwärts, aber die Menschenmenge scheint ihn zurückzudrängen, ihn geradezu zu erdrücken. Er spürt spitze Ellenbogen, den einen oder anderen Tritt, hört Beschimpfungen, die er nicht versteht. Aber er muss nach vorn. Er muss ganz nach vorn.
    Schließlich steht er so zentral, dass er eine weitere Limousine vorbeifahren sehen kann – vorher hat er sie lediglich gehört. Sie fährt weiter, ohne anzuhalten. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, stehen zu bleiben. Er erkennt die Flagge wieder. Es ist ein groteskes Paradox. Die rot-gelbe Flagge. Im Wagen sitzt Hu Jintao, der Präsident. Aber jetzt kann er ihn nicht mehr sehen. Die Limousine hat die Absperrungen bereits passiert und befindet sich auf dem Weg hinunter zum ExCeL.
    Der Schwitzende bebt innerlich. Er schiebt sich weiter voran. Er stößt mit einer Frau zusammen, die ebenso energisch vorwärtsstrebt wie er. Ihre Blicke begegnen sich für einen kurzen Moment. Hätte er es nicht eilig, würde er kurz innehalten. Irgendetwas an dem Blick der Frau kommt ihm bekannt vor. Er hat etwas Absolutes. Etwas Endgültiges. Es ist, als schaue er genau in dem Moment in die Augen eines Menschen, als der sein Leben aushaucht. Maximale Lebensenergie, gefolgt von der Ewigkeit des Todes, vereint in ein und demselben Blick.
    Aber er hat keine Zeit. Sie auch nicht. Sie arbeitet sich weiter durch die Menge hindurch. Er ebenfalls, in seine Richtung. Der Schweiß brennt ihm inzwischen nicht mehr in den Augen, blendet ihn nicht mehr. Er ist jetzt fast an der Straße angekommen. Nur noch drei Reihen, aber das sind die standhaftesten, die mit den fanatischsten Aktivisten.
    Weit in der Ferne sieht er, wie sich wieder eine Limousine nähert. Mit ungeahnter Deutlichkeit, als halte ihm jemand ein Fernglas vor die Augen, kann er die amerikanische Flagge ausmachen, die über dem Kotflügel des Wagens weht.
    Sie spürt keinerlei Unbehagen mehr. Vermutlich hat sie es die ganze Zeit über nicht gespürt. Die Empfindungen, die sie hatte, als sie das Röhrchen einführte, entsprachen eher dem Gefühl, sich des Lebens zu erinnern, als einem realen Unbehagen.
    Das Wichtigste war, dass sie ungehindert vorankam, und das kam sie, den ganzen Weg durch die Menschenmenge hindurch, bis sie geradewegs mit dem Chinesen zusammenstieß.
    Chinese?, denkt sie und lächelt bitter. Vorurteile. Durch und durch.
    Sie erinnert sich an seinen Blick. Wie es war, genau in dem Moment geradewegs in die Augen eines Menschen zu schauen, als der sein Leben aushaucht. Für den Bruchteil einer Sekunde fragt sie sich, was er hier wohl macht. Dann fokussiert sie den Blick wieder nach vorn. Schärft ihre Aufmerksamkeit aufs Äußerste. Wie sie es schon seit Langem tut. Blendet alles um sich herum aus. Alles, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hat.
    Inzwischen ist sie fast an der Straße angekommen. Sie hört den Wagen, noch bevor sie ihn erblickt. Ein diffuses Gefühl vermittelt ihr den Eindruck, dass sich dieses Motorengeräusch anders anhört. Lange bevor sie in der Ferne die amerikanische Flagge auf der Motorhaube der Limousine erkennt, weiß sie, dass er es ist.
    Ihre einzige Chance.
    Sie arbeitet sich bis zur Absperrung vor. Die skandierenden Aktivisten lassen sie jedoch nicht durch, sie brennen geradezu für etwas, das sie selbst noch nie empfunden hat. Wie ist sie eigentlich hier gelandet? Sie ist wahrhaftig keine von ihnen. Sie war noch nie Feuer und Flamme für irgendeine Sache und ist es nicht einmal jetzt. Aber ihre Entschlossenheit ist stärker als die der anderen. Sie wird es irgendwie schaffen, an ihnen vorbeizukommen. Sie scheinen zu merken, dass sie anders ist. Dass es für sie um so viel mehr geht.
    Sie hängt genau in dem Moment mit dem Oberkörper über der Absperrung, als die Limousine in ungefähr fünfzig Meter Entfernung sichtbar wird. Ihr Winken kommt ihr so pathetisch vor. Sie kann nur darauf hoffen, dass er erkennt, wie andersartig es ist.
    Hoffen.
    Als könnte ihre Hoffnung in diesem Fall irgendetwas ausrichten.
    Die Limousine nähert sich Meter um Meter, so

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