Giftiges Grün
sie sich erniedrigen würde, um an den Stoff zu kommen. Nicht Heinrich – Catulle war hinter Marion her gewesen. Tante Tilly wusste, dass der Bruder mit dem römischen Vornamen in der Nähe von Buchfinkenschlag gelebt hatte, dass er und Rose aber einander nicht nahestanden. Nach Fräulein Maries Erinnerung waren de Poussé und Heinrich Weil keine Freunde. Vielleicht weil der im Mann seiner Schwester den Opportunisten erkannt hatte, der sich an die windstillen Plätzchen verzog, wenn es turbulent wurde. Doch eines Tages war der Doktor in seinem Sportcoupé vorgefahren und hatte dieses verrückte dünne Mädchen kennengelernt. Vielleicht hatte er mit Marion eine kleine Spritztour unternommen. Und zum Sonnenwendfest war er auch eingeladen, der arme Onkel Catulle, der kriegsversehrte Arzt, der seine Approbation verloren hatte, weil er Rauschgift an Jugendliche weitergegeben … An Marion? Wenn er sie erpresste? Zum Sex oder was auch immer. Es gab einen Schuldigen an ihrem Tod, aber Karl hatte auf den falschen gesetzt.
Er schloss die Augen um seine Bestürzung zu verbergen. Das Mörderspiel war gelaufen. Er hatte nicht aufgepasst und war draußen. Vor Tante Rose und diesem Gerswiller hatte er sich unmöglich gemacht und Lina würde wieder etwas Schlaues sagen wollen über Leute, denen am Verlieren nichts liegt. Sie, die alte Schusselline, die absolut nichts zum Aufspüren des Schuldigen beigetragen hatte und dafür einen Singer Sargent abstaubte.
»Ich habe mich bemüht«, hörte er Rose sagen, »aber Reden und Vorhaltungen waren kein Mittel, Marion von ihrem Weg abzubringen. Und Henri glaubte mir nicht. Vor ihm spielte sie den Unschuldsengel. Wer von uns hätte ihr helfen können? Ich war in diesen Dingen so unerfahren. Natürlich sah ich, dass ihr Verhalten krankhafte Züge hatte, aber sie wehrte sich mit Händen und Füßen, als ich unseren guten alten Doktor Fuchs ins Haus bestellte. Sie behauptete, ihr sei schlecht, weil sie zu lange in der Sonne gelegen habe. Oder ihre Monatsregel sei schuld. Und danach mied sie mich, so gut sie konnte. Inzwischen weiß ich ein wenig mehr. Ich habe mich lange mit den Ärzten der Drogenstiftung unterhalten. Marion zeigte alle Symptome eines vom Rauschgift beherrschten Menschen; die kurzen Phasen, wenn sie wie beseligt wirkte, und die langen elenden, wenn ihr das Gift fehlte. Ich habe gelernt, dass Heroinsüchtige nicht mehr Herr ihrer Sinne sind. Sie verlieren die Kontrolle über ihren Körper und ihre Bewegungen. Ich bin davon überzeugt, dass Marion im Drogenwahn gestorben ist, als sie ins Wasser stürzte und ertrank.«
Lina blickte über den Tisch zu Johann, aus dessen Gesicht das Leben gewichen schien. Er hatte Schatten um Mund und Schläfen und sah aus, wie ein Mann, neben dem ein Blitz eingeschlagen hatte, der eigentlich für ihn bestimmt war. Rose wusste es, aber Rose wusste nicht alles. Sie wusste, wie jeder in Buchfinkenschlag, dass er und Marion ein Paar waren. Vielleicht war sie nicht einmal überrascht, ihn am Morgen in demselben Frack zu sehen, in dem er am Abend zuvor ihre Gäste bedient hatte. Sie wusste vom Gewächshaus, aber sie wusste nichts von dem tödlichen Experiment mit den Engelstrompeten. Doch mit der Zeit und wenn sie darüber nachgedacht hatte, würde Rose begreifen, was Johann ihr seit dreißig Jahren verschwieg. Seit der Nacht, in der Marion ertrank, wusste er, dass sie eine Szene gespielt hatte, um Heinrich Weil zu blamieren und zu beschuldigen. Zusammen hatten die beiden im Badehaus über die blöden Alten gelacht.
Johann hatte zugesehen, wie in Buchfinkenschlag alles auseinanderbrach. Kein Wort zu Rose, das ihres und Heinrich Weils Unglück hätte abwenden können. Stattdessen die gehässige Geschichte von der versuchten Vergewaltigung, die er jedem erzählte, der sie hören wollte; auch zwei dahergelaufenen Frauen. Nur damit seine verdammte Hexenküche nicht aufflog, sein wüster Garten, »der auf in Samen schießt«.
Mein armer Johann, dachte sie, mein Giftgärtner, mein Pfadfinder, und wie du schuldig bist! Wie hast du es dreißig Jahre lang mit diesem Wissen ausgehalten? Allein in deinem Garten als alter Hagestolz und Hüter des zerstörten Buchfinkenschlags. Als sei es deins. Nichts hast du behalten, nicht einmal deine Selbstachtung. Ihr fiel das Gedicht ein, aus dem er eine Zeile aufgesagt hatte, bevor sie nach Straßburg gefahren waren, über den Regen und einen Kerl, der sich selbst zuwider ist.
Warum hatte er ihr verheimlicht, dass
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