Giftiges Grün
du sollst es nicht essen, sondern an mich denken.«
»Mein Paracelsus«, sagte Lina und sie küssten sich an der Ufermauer des Quai St. Thomas.
Eine Hausdame in einem blauen Kleid mit weißem Kragen öffnete ihnen die Tür und sie traten in den Salon. Durch offene bodentiefe Fenster flutete die Mittagssonne; Spitzengardinen lagen wie Schleppen auf dem Parkett und bauschten sich im Durchzug. Die hellen Möbel schimmerten. Im Kamin stand ein frisches Blumenbukett – Phlox, weiß und rosa. Sein Geruch, der an Bratensoße und alte Schränke erinnert, füllte den Raum und rief in Lina das Bild der Dachkammer hervor mit den Kartons im Flur, der Wolldecke über der Chaiselongue und der Metzgerei im Erdgeschoss.
Tante Rose stand im Gegenlicht neben einem mit Teegeschirr gedeckten Tisch, ihre Rechte hielt den Knauf eines hohen Stuhls fest. Sie trug ein dunkelgrünes hochgeschlossenes Kleid, Perlen um den Hals und in den Ohren. Ihr dünnes weißes Haar war wie Zuckerwatte gesponnen und sie war so stark geschminkt, als teile sie mit Alphonse Bruant die Neigung zu falschen Farben.
Lina hatte einmal eine Aufführung der Compagnie der berühmten Tänzerin Martha Graham gesehen, als die selbst schon so alt und gichtig war, dass sie nicht mehr allein über die Bühne gehen konnte und man sie am Ende zwischen zwei Vorhängen offenbar auf einem Rollbrett hinausgefahren und dort wie eine Statue aufgestellt hatte, damit ihr das Publikum applaudieren konnte. So erschien ihr Tante Rose in ihrer theatralischen Pose. Die alte Dame erwartete sie lächelnd und aufrecht, kam ihnen aber keinen Schritt entgegen.
»Ma chère Lina«, sagte sie, »mon cher Johann«, und betonte seinen Namen auf der zweiten Silbe. Er legte ihr die Blumen in den Arm.»Sie sind die einzige Rose in meinem Garten, Madame«, sagte er, umfing sie leicht und küsste sie auf beide Wangen. Nicht gerade wie ein Sohn, dachte Lina, auch nicht wie der Gärtner. Dieser Kerl hat nichts ausgelassen und sie ist immer noch ein bisschen in ihn verknallt. Die traurige Madame Weil, die ihre Tochter verloren und ihren Mann fortgejagt hatte. Der Gärtnerbursche war auf die Leiter gestiegen und hatte für sie die Rosen aus dem Spalier geschnitten, im Sommer, wenn sie auf dem Höhepunkt sind und kurz vor dem Vergehen, schwer duftend, warm und sexy. Rose hatte hinaufgeschaut, auf seinen kleinen Hintern, an dem er sich immer die Hände abwischte, und als er herunterkam, musste sie seinen Arm berühren.
Tante Rose nahm die Hand vom Stuhlknauf und streckte sie ihr entgegen. Soll ich niederknien?, dachte Lina. Sie fühlte sich, als stünde sie wieder mit ihrem Köfferchen und der Fahrkarte um den Hals in der Eingangshalle von Buchfinkenschlag und die Tante kam die Treppe herab mit Augen streng und dunkel. Sie blickte auf Linas Verbände, hob die Augenbrauen, fragte aber nicht und ließ die Hand sinken.
»Du darfst mich auch küssen, liebe Nichte«, sagte sie und Lina berührte mit angehaltenem Atem ihre Wange, die wie ein rosa Bienenpelz gepudert war.
»Ich sehe, du hast dich kaum verändert.« Rose sprach mit einem leichten französischen Akzent, an den Lina sich nicht erinnerte.
»Du dich auch nicht, Tante Rose«, gab sie einfältig das herbe Kompliment zurück.
Karl wurde gemeldet und trat ein. Er sah nicht mehr ganz so frisch wie am Vortag aus, war aber randvoll mit guter Laune und präsentierte sich seiner Tante beschwingt mit einem angedeuteten Handkuss. Lina stellte ihn Johann Gerswiller vor.
»Ah, Sie sind das!«, sagte Karl und funkelte ihn vielsagend an.
»Nehmt bitte Platz.« Tante Rose gab der Hausdame, die offenbar in den Kulissen gewartet hatte, ein Zeichen. Daraufhin servierte sie eine Platte mit kleinen dreieckigen Weißbrotschnitten, die mit Pastete, Eier- und Gurkenscheiben, Lachs und Brunnenkresse belegt waren. Die Teekanne war die gleiche, die Lina aus Onkel Heinrichs Schrank mitgenommen hatte. Die Servietten auch. Wenn du wüsstest, Tante Rose, dachte sie. Karl schielte auf ihre Hände.
»Wie hast du das denn geschafft?«, raunte er.
»Hingefallen.«
»Schusselline!« Es schien ihn zu amüsieren.
Johann Gerswiller war der Einzige, der auf Roses einladende Geste hin zu einem Lachssandwich griff. Er hatte noch nicht gefrühstückt. Dann saßen sie schweigend auf den Stuhlkanten. Selbst die Teelöffel klimperten befangen. Lina betrachtete das Porträt über dem Kamin, das in Buchfinkenschlag im Salon gehangen hatte; das Schneewittchenbild, das Rose als
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