Giftkuss
Griff des Messers vor.
»Kommst du bitte mal mit nach oben?«, fragte Anja. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
»Eigentlich nicht so gerne, ich muss das Silber putzen.«
»Es dauert nicht lange.«
Widerstrebend legte Katharina das Tuch und das Messer auf den Tisch und folgte Anja aus der Küche. Mit jedem Schritt, den sie sich Anjas Zimmer näherten, wuchs ihre Angst. Jetzt kam nichts Gutes!
»Was wird das?«, fragte sie, bekam aber keine Antwort. Als sie oben waren, beobachtete Katharina, wie Anja aus ihrem Schrank eine Blechdose hervorkramte, den Deckel öffnete und eine Fotografie herausnahm. Abwechselnd betrachtete sie erst das Foto, dann Katharina. So ging das eine Weile hin und her, bis Katharina ihre Gereiztheit nicht mehr unterdrücken konnte und noch einmal fragte, was Anja von ihr wolle.
Anja kam auf sie zu und hielt ihr das Foto hin. »Weißt du, wer das ist?«
Katharina betrachtete die vierköpfige Familie, die ihr aus einer fernen Zeit entgegenlächelte. Ihr wurde schwindelig und sie hielt sich an der Lehne des Schreibtischstuhls fest, der direkt neben ihr stand. Die wenigen Fotos, die sie aus ihrem früheren Leben besessen hatte, hatte sie vor Jahren weggeschmissen. Denn wie um sich selbst zu quälen, hatte sie sie in regelmäßigen Abständen angeschaut und sich hinterher unendlich schlecht gefühlt. Und nun sah sie ihre Schwester seit langer Zeit zum ersten Mal wieder.
»Laura«, flüsterte sie leise und strich sanft mit dem Daumen über das kleine Gesichtchen. Das Bild war an Lauras zweitem Geburtstag aufgenommen worden. Sie waren wie eine ganz normale Familie in den Zoo gegangen. Sogar Mama hatte manchmal gelacht, wie auf diesem Foto. Katharina betrachtete sich selbst, wie sie sich als Neunjährige an die Beine ihrer Mutter gedrückt und zu ihrem Vater hinaufgelächelt hatte. Und der rot karierte Schottenrock mit der großen, silbernen Sicherheitsnadel, wie hatte sie ihn geliebt! Sie erinnerte sich genau, wie ihr Vater dem netten Mann, der sie fotografierte, zugerufen hatte, er solle den Gestank nicht mit aufnehmen. Der Dunst des Nilpferdgeheges war wirklich kaum zu ertragen gewesen. Alle hatten gelacht über den Scherz, sogar die kleine Laura.
»Wer ist das?«
Katharina trat erschrocken einen Schritt zur Seite und drückte das Foto an ihre Brust. Anja war dicht hinter sie getreten und hatte ihr über die Schulter geschaut. Statt einer Antwort stellte sie eine Gegenfrage: »Wo hast du das her?«
»Auf dem Dachboden gefunden. Gestern. Bist du das, die mit den Zöpfen?«
»Auf dem Dachboden?« Wieso hatte sie nie auf dem Dachboden geschaut?
»Ich habe im Schrank nach Kleidern fürs Musical gesucht. Da ist diese Blechdose aus dem oberen Fach gefallen.« Sie sah auf die gelbe Dose in ihren Händen. »Bist du das?«
Katharina nickte. Sie war zu schwach, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.
»Komm, setz dich«, bat Anja und drückte Katharina sanft auf den Stuhl. Sie holte sich selbst auch einen aus der anderen Ecke des Zimmers und setzte sich daneben. Die Feindseligkeit war verflogen und sie war wieder die sensible Anja, die Interessierte, die Hilfsbereite, die sogar die Verabredung mit der besten Freundin verschob, sobald jemand sie brauchte. Wenn sie gewusst hätte, wie unpassend das in dieser Situation war!
Katharina saß stocksteif neben Anja und versuchte fieberhaft, Laura aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie musste wieder denken können, so schnell wie möglich!
Anja beugte sich zu ihr hinüber. »Ich hab dich nicht erkannt auf dem Bild. Erst eben in der Küche… da dachte ich…«
»Wer hat das Bild noch gesehen?«
»Bis jetzt niemand. Ich wollte es heute Cleo zeigen. Deshalb bin ich zurückgekommen. Ich hatte es vergessen.«
Gut, dachte Katharina, fand dieses Wort aber im selben Moment falsch, denn sie hatte ja bereits eine Mitwisserin, und das war schon eine zu viel.
»Was macht mein Stiefvater da neben dir?«
Katharina sprang abrupt auf. Sie musste raus hier! Durfte sich nicht ausfragen lassen. Musste nachdenken.
»Ich gehe!«
»Ist er dein Vater?«
»Lass mich in Ruhe!« Katharina wollte das Zimmer verlassen, doch Anja war schneller. Sie stellte sich blitzschnell in die Tür und hielt immer noch die Blechdose fest in ihren Händen. Die beiden Mädchen standen einander gegenüber und beäugten sich.
»Ist er dein Vater?«
»Du hast ja keine Ahnung!«
»Dann erklär’s mir halt.«
»Lass mich durch!«
Doch Anja dachte gar nicht daran, im Gegenteil, sie machte sich
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