Gifthauch
1
7.47 Uhr
Die Schlange hatte sich aufgerichtet und war bereit zuzuschlagen. So dachte sie von sich – so dachte er von sich.
Er stand in Detroit auf dem West Grand Boulevard und lehnte an der Bushaltestelle vor dem Henry Ford Hospital am Wartehäuschen. Hinter ihm ragte das Gebäude auf, ein roter Ziegelbau von siebzehn Stockwerken, an dessen Oberkante in großen weißen Buchstaben der Name des Krankenhauses geschrieben stand. Eigentlich handelte es sich um einen Komplex aus wenigstens einem halben Dutzend Gebäuden und mehreren Parkhäusern, das an der Ecke von John Lodge und dem Boulevard den gesamten Häuserblock dominierte, und nicht nur ihn, wenn man die zugehörigen Parkplätze hinzuzählte. Der Herbsttag war frisch, und graue Wolken zogen über den Himmel, als hätten sie es eilig, irgendwohin zu kommen.
Die Schlange machte sich Gedanken um den Wind. Er fragte sich, ob der Wind Schwierigkeiten verursachen würde. Doch das wäre eine technische Komplikation, und technische Herausforderungen lagen ihm. Das ganze Vorhaben hatte als technische Herausforderung begonnen. Der Wind allerdings war ein Planungsfaktor, über den er nicht allzu viel nachgedacht hatte.
Er überlegte, ob er sich damit länger hätte befassen sollen, doch dann gelangte er zu dem Schluss, dass es zu spät sei. Bei jedem Experiment, bei jedem Vorhaben kam irgendwann der Moment, in dem man vorzucken musste – und zuschlagen!
Das mochte er. Ihm gefiel das Melodramatische daran. Dass es klang wie aus einem schlechten Film, störte ihn nicht. Er fand den Namen, den er sich gegeben hatte, cool. Die Schlange.
Er fuhr mit den Fingern über das Handy, das er in der Hand hielt. Es war ein Klappgerät von Nokia mit dem üblichen Ramsch an nutzlosen Zusatzanwendungen – Terminplaner, Videospiele, Taschenrechner, elektronisches Notizbuch, Digitalkamera. Die Schlange blickte auf das winzige Display und tippte die Nummer ein. Nun brauchte er nichts weiter zu tun, als die grüne Ruftaste zu drücken. Bereit zum Stoß.
Zeit, die Welt an die Macht Alephs zu erinnern. Zeit, dass Aleph sich wieder erhob.
Auf dem Boulevard ging es sehr belebt zu. Nicht weit vom Krankenhaus stand das Fisher Building, ein architektonisches Juwel vom Reißbrett des Architekten Kahn, über vierzig Stockwerke aus lohfarbenem Marmor und Sandstein mit einer grünspanbedeckten Kupferspitze, die am äußersten Ende golden war. Er hörte das Dröhnen der Automotoren auf der Lodge, einer Durchgangsstraße, die man in eine massige Betonschlucht mit dreizehn Meter hohen Wänden versenkt hatte. Diese teilten die Stadt in zwei Hälften. In der Stadt des Motors fuhr jeder Auto. Siebzig Meilen pro Stunde, hundertzehn Stundenkilometer, war auf der Lodge die Mindestgeschwindigkeit. Auf den Straßen an der Oberfläche sah es anders aus. Auf dem Boulevard stauten sich die Fahrzeuge, und niemand kam schnell voran. Irgendwo in der Nähe war ein Wagen liegen geblieben. Die anderen Fahrer waren ungeduldig. Die Schlange merkte es an der Art, wie sie den Kopf hielten. Ständig hupte jemand.
Ein Obdachloser in zerlumpter schwarzer Hose und Armeejacke schlurfte an ihm vorbei und musterte ihn, dann zog er sich in eine Ecke zurück. Er sah alt aus, war dünn und hatte einen struppigen weißen Bart. Unter einem Arm hielt er ein Pappschild, auf dem stand: ›Ich bin obdachlos und hungrig.‹ Die Schlange überlegte. Wenn der Bursche den ganzen Tag über dort an der Ecke arbeitete, acht oder neun Stunden lang das Schild hochhielt, während die Autos vorbeischlichen, wie viel hätte er am Abend eingenommen, wenn ihm von einem Dutzend Autofahrer einer einen Dollar gab oder vielleicht sogar einen Fünfer? Fünfzig Dollar? Hundert? Noch mehr?
Als ein starker kalter Windstoß heranbrauste, zog die Schlange die Schultern hoch und blickte dann über die Straße zum Café am Boulevard hinüber. Alle sind da, dachte er.
Die Schlange – er grinste bei dem Gedanken – spannte ihren Körper an, um zuzustoßen, den Finger auf der grünen Ruftaste.
2
7.53 Uhr
John Simmons bestellte die letzte Mahlzeit seines Lebens. Hätte er gewusst, dass es seine letzte Mahlzeit war, so hätte er sich wohl kaum ein Bauernfrühstück mit Kartoffelpuffern bestellt, dazu Weizentoast mit einem großen Glas Orangensaft und Kaffee, was er jedes Mal aß, wenn er in das Café gegenüber dem Henry Ford Hospital ging. Hätte er gewusst, dass er seine Henkersmahlzeit bestellte, wäre das Boulevard Café überhaupt nicht in
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