Giftkuss
noch breiter, indem sie ihre Ellbogen gegen den Türrahmen drückte, und sah Katharina fest in die Augen. Ihr Handy klingelte. Es lag auf dem Schreibtisch, doch sie beachtete es nicht.
»Katharina, ich habe diese Dose auf dem Dachboden gefunden und frage mich seitdem, mit was für einem Menschen ich unter einem Dach lebe. Da stimmt doch was nicht. Weder Mama noch ich wissen etwas von einer anderen Familie. Und du kennst die Antwort. Bitte!«
Katharina schnaubte laut durch die Nase. Dabei kratzte sie mit dem Fingernagel ihres Zeigefingers eine neue Wunde in ihrer linken Handfläche. Doch nicht einmal die Schmerzen beruhigten ihre Gedanken.
»Hier.« Anja hob den Deckel der Blechdose und nahm einen Zeitungsartikel heraus. »Ich les dir mal was vor:
Gießen, 10. Juni 2006
Jugendamt im Visier
Nach neuesten Erkenntnissen im Fall Laura M. ist das Gießener Jugendamt seinen Dienstpflichten nicht ausreichend nachgekommen. Das Gericht prüft, ob der zuständige Mitarbeiter, Tibor Mortzfeld, eine Klage wegen Verletzung des Schutzauftrages bei Kindern und Jugendlichen zu erwarten hat. Der tragische Tod der behinderten Laura M. (der GA berichtete am 5. Juni) hätte verhindert werden können, wenn die Familie häufiger überprüft worden wäre. Das Kind lag drei Tage lang tot in seinem Bett, weil ihm die notwendigen Medikamente nicht verabreicht wurden. Zuvor hatte sich die 17-jährige Schwester, Sabrina M., um das Mädchen gekümmert, doch sie war zu diesem Zeitpunkt auf Klassenfahrt und die Mutter konnte wegen starker Depressionen ihrer Sorgepflicht nicht nachkommen. Ein Nachbar hatte das Jugendamt bereits sechs Monate früher auf die katastrophalen Zustände in der Familie aufmerksam gemacht.
»So etwas darf nicht mehr passieren. Dieser Fall bedarf der unbedingten Aufklärung«, so die Familienbeauftragte Andrea Huber.
»Gib das her!« Katharina zerrte Anja den Zeitungsartikel aus der Hand und riss ihn in mehrere Teile.
»Alles Lügen! Die Zustände waren überhaupt nicht katastrophal!«
»Bist du Sabrina?«
»Und wenn?«
»Dann wäre das furchtbar. Deine Schwester ist gestorben, als du nicht da warst und…«
Mit aller Wucht rannte Katharina auf Anja zu und stieß sie hinaus auf den Flur.
»Katharina! Bleib hier!«
Anja erwischte sie am Saum ihres T-Shirts und hinderte sie daran, die Treppe hinunterzulaufen. Katharina fühlte sich, als zerplatze ihr Kopf. Unbändige Wut überkam sie und sie wollte nur noch eins: raus! Sie packte Anja am Handgelenk und befreite ihr T-Shirt mit einem heftigen Ruck aus ihrem Griff.
»Lass mich verdammt noch mal in Ruhe!« Die Worte zischte sie, leise, aber äußerst bedrohlich. Entsprechend heftig schreckte Anja zurück, doch Katharina ließ sie nicht los.
»Ich will doch nur reden«, antwortete Anja.
Kurz registrierte Katharina Angst in Anjas Augen, doch da war es schon zu spät. Mit voller Kraft schubste sie Anja von sich, als könnte sie auf diese Weise ihre ganze entsetzliche Vergangenheit wegstoßen.
Anja stolperte auf ihren hochhackigen Schuhen direkt auf den Treppenabsatz zu. Sie versuchte, sich am Geländer festzuhalten, erwischte es aber nicht und kippte… Mit einem lang gezogenen Schrei fiel sie die Steintreppe hinab und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Marmorfußboden. Von einer Sekunde auf die andere war es unerträglich still.
Am Anfang zaghaft, dann immer schneller lief Katharina die Treppe hinunter. Dabei ließ sie Anja nicht aus den Augen. Sie lag mit dem Rücken auf dem Marmorboden und hatte ihre Beine und den Rumpf unnatürlich verdreht. Ihr Gesicht zeigte nach oben und die Augen waren geschlossen.
Bitte beweg dich, BEWEG DICH DOCH!
Anja lag ganz still da, nur die Bauchdecke hob und senkte sich im Rhythmus ihres Atems. Als Katharina unten ankam, bemerkte sie sofort das Blut, das dieselbe Farbe hatte wie Anjas Lippenstift. Schädelbasisbruch! Sie rekapitulierte blitzartig, was sie darüber gelernt hatte: Hirnblutungen, hoher Druck legt die Gehirnfunktionen lahm, erst schwindet das Bewusstsein, dann stellt der Körper die Atmung ein. Das kann Minuten oder Tage dauern. Gebannt beobachtete sie Anjas Atmung und überlegte, was sie tun sollte. Doch als sie immer mehr Blut über den Marmorboden laufen sah, wusste sie, dass jede Hoffnung zwecklos war.
Kurz darauf bewegte sich Anjas Bauchdecke nicht mehr. Und dann, ganz plötzlich, konnte Katharina sich nicht mehr beherrschen. Sie schrie und schrie und schrie und kniete sich neben Anja, nahm deren linke
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