Giftschatten
denn sie gehören alle dem Kult. Der Kult verehrt keine Gottheiten, sondern an ihrer Statt die Osadroi mit ihrem Schattenkönig an der Spitze. Eine menschliche Priesterschaft lehrt das Volk den Gehorsam gegenüber seinen grausamen Herren und stachelt seine Gefühle auf. Als höchstes erreichbares Glück wird den Gläubigen die Wandlung zum Osadro gelehrt, durch die sie unsterblich werden können. Der Kult ist die einzige Religion Ondriens. Jeder Mensch, der eine einflussreiche Position innehat, etwa als Schulze oder Feldherr, wird von der Priesterschaft auf seine Rechtgläubigkeit hin überprüft. Würdet Ihr in Ondrien den Stiergott auch nur mit einem flüchtigen Vers ehren, Junge Dame, Ihr müsstet einer harten Strafe ins Auge blicken.
Die Umwandlung eines Menschen in einen Osadro geschieht selten und bedarf des Einverständnisses eines Schattenherzogs. Nach dem, was wir wissen, scheint wahrscheinlich, dass in dem langwierigen Ritual die Brust des Erwählten geöffnet wird. Nach erfolgter Wiederbelebung wird das Herz entnommen und zur Burg des Schattenkönigs geschickt. Dadurch hat jeder Osadro eine Narbe unter dem Brustkorb. Zudem kann sich der Schattenkönig der Loyalität seiner Art sicher sein, da die Zerstörung des Herzens seinen Besitzer auf der Stelle tötet.
Neben den menschlichen Dienern gebieten die Osadroi über weitere, weitaus finsterere Sklaven. Viele davon sind mit Hilfe der Schattenmagie geschaffen worden. Besonders häufig sind Ghoule, wiederbelebte Leichen, die sich von Aas ernähren und ihren Herren willenlos folgen. Sie sind jedoch tumb und eignen sich nur für einfache Aufgaben. Besonders beim Bewegen von Lasten sind sie wegen ihrer großen Körperkräfte nützlich.
Ob im ewigen Eis wirklich die Burg der Alten existiert, darf bezweifelt werden. In ihr sollen diejenigen Schattenkönige schlafen, die ihrer Erweckung harren. Sicher ist nur, dass kein Sterblicher jemals von diesem Ort zurückgekehrt ist.
Im Nachtschattenwald mit seinen riesigen Bäumen, südöstlich von Ondrien, herrschen die unsterblichen Fayé über ihr Reich Amdra. Sie schätzen es nicht, wenn jemand unter die Kronen der Bäume tritt. Wenig ist von ihnen bekannt, außer dass sie ein schwindendes Volk sind, das seine Nähe zum Nebelland nutzt, um dämonischen Kreaturen den Weg in die Welt des Greifbaren zu zeigen. Hoffen wir, dass ihre Ziele den unseren so fremd sind, dass Ihr niemals Kontakt zu ihnen bekommen werdet, Junge Dame.
Ondriens größter Gegner ist Ilyjia, eine Theokratie, deren Ordensritter geschworen haben, die Untoten zu vernichten. Auch Ilyjia ist jedoch in sich uneins. Zum einen gibt es das Königshaus, das die Macht nominell in Händen hält, aber von leichtlebigen Monarchen regiert wird, die der Politik nichts abgewinnen können. Dann ist da der Tempel der Mondmutter, eine Religion, der fünf weise Frauen vorstehen. Ihre Priesterinnen sind in den Heilkünsten bewandert und segnen die Felder. Ursprünglich nur als Schutz für die Priesterinnen gestiftet, wurde daraus der Orden der Mondschwerter. Daraus hat sich eine Gemeinschaft von Paladinen gebildet, die eine erhebliche militärische Macht darstellen. Sie wollen die Welt für die Menschen erobern, als deren Hauptgegner sie die Osadroi erkannt haben.
Warum Euer Vater so schlecht von ihnen spricht, Junge Dame?
Nun, man muss einräumen: Sie sind in der Wahl ihrer Methoden nicht zimperlich und setzen ihre Macht rücksichtslos für die Sache ein, der sie ihr Leben verschrieben haben – auch über die Grenzen Ilyjias hinaus. Und man mag sie als kalt empfinden. Sie können ihre Emotionen durch meditative Übungen unterdrücken, was sie in gewissem Maße vor den Manipulationen der Osadroi schützt, sie aber zugleich herzlos erscheinen lassen kann.
Im Spiel um die Macht ist die Täuschung eine Waffe, die jeder zu führen versteht. Darum bildet Euer Urteil nicht zu schnell, Junge Dame. Wer Euch lächelnd umarmt, will Euch vielleicht ein Messer in den Rücken stoßen.
PROLOG
WISSEN
D as also war Endorns Haus. Oder vielmehr war es Endorns Haus gewesen , wie Modranel mit einem Blick auf das eingestürzte Dach feststellte. Stygron war beinahe vollständig dunkel und Vejata lag unter dem Horizont, aber Silion prangte als Dreiviertelmond hoch am Himmel und goss sein silbriges Licht über die Ruine. Der Bach glitzerte neben den dunklen Mauern des Herrenhauses, die auf diese Entfernung so wuchtig wirkten, als sei das Bauwerk – abgesehen vom Dach –
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