Giftweizen
Wenzels seltsamem Bericht konnte also tatsächlich etwas dran sein! Er blickte in Richtung Ferchel und wies den Bauern an: »Stell deinen Trecker an die Seite, wir fahren mit meinem Auto hin.«
Wenzel wusste nicht, ob der Vorschlag ernst gemeint war. Zweifelnd blickte er auf das nicht gerade geländetaugliche Fahrzeug des Polizisten. Dann nickte er wider besseren Wissens und bemerkte: »Nur zu, es sind ja deine Achsen!«
~ 4 ~
Judith Brunner betrat ihr frisch renoviertes Büro. Schnell öffnete sie alle Fenster, um statt des Farbgeruchs die wohltuende Frühlingsluft hereinzulassen.
Es hatte mehrere Monate gedauert, bis sich der zuständige Mitarbeiter bei der Gebäudeverwaltung davon überzeugen ließ, dass die Räume der Kreisdienststelle der Polizei nicht in dem beklagenswerten Zustand bleiben konnten, in dem Judith sie seinerzeit vorgefunden hatte. Erst, als sie sich keinen anderen Rat mehr wusste und zu den abgenutzten Formeln von besseren Arbeits- und Lebensbedingungen, von anstehenden Volkswahlen und Bürgernähe gegriffen hatte, war etwas passiert. Und nun waren immerhin der Empfangs- und Eingangsbereich, der Warteraum und die erste Etage, in der sich auch ihr Büro befand, hergerichtet und teilweise neu möbliert worden. Für das kommende Jahr waren ihr sogar für weitere Räume entsprechende Gelder in Aussicht gestellt worden. Ihrer Hartnäckigkeit in dieser Frage wusste man in der Verwaltung nichts mehr entgegenzusetzen.
Wahrscheinlich würde Judith sich an den bloßen, nun weißen Wänden und den vorhanglosen Fenstern erst einmal einige Wochen erfreuen, bevor sie über eine Raumgestaltung nachzudenken bereit war, denn nach den abscheulichen Tapeten und Gardinenschals, die bis vor einigen Tagen den ziemlich großen Raum verunzierten, war der neue Anblick eine Wohltat für Augen und Seele.
Den Schreibtisch ihres Vorgängers hätte sie notfalls auch weiter benutzt, doch als er gegen ein neueres Modell ausgetauscht wurde, protestierte sie nicht allzu laut. Einzig der größere Besprechungstisch aus altem Holz war vom ursprünglichen Mobiliar noch geblieben. Die angeschafften Stühle genügten praktischen Anforderungen und insgesamt gefiel Judith diese eher spartanische Ausstattung ihres Büros recht gut.
Als das Telefon klingelte, hallte es sogar ein wenig.
»Hauptkommissarin Brunner«, meldete sie sich.
»Guten Morgen. Hier ist Renz.«
Judith Brunner würde diese Stimme auch ohne Vorstellung erkennen. Sie war ihr seit Jahren vertraut, denn sie hatte mit dem Rechtsmediziner schon in der Magdeburger Polizeibehörde bei vielen Fällen zusammengearbeitet. In Gardelegen waren sie sich dann wieder begegnet, und Judith Brunner hatte bei ihren Ermittlungen in der Altmark erneut von Dr. Renz’ Hilfsbereitschaft und Gründlichkeit profitieren können.
»Hallo. Es ist wirklich ein schöner Morgen.« Und da Dr. Renz nicht zu den Leuten gehörte, die für einen belanglosen Schwatz anriefen, fragte sie sofort: »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich fürchte, ich benötige Ihre Hilfe.«
Judith Brunner horchte sofort auf, denn es konnte sich bei einem Anliegen von Dr. Friedrich Renz weder um eine Bagatelle noch um eine eitle Wichtigtuerei handeln. »Oh. Ich hoffe, es ist Ihnen nichts geschehen?«
»Danke, nein. Mir geht es gut. Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht in Aufregung versetzen. Es geht um ein Problem hier im Krankenhaus. Ich habe es eben erst festgestellt. Leider ist es mir allein nicht gelungen, eine plausible Erklärung zu finden.« Nach einer kurzen Pause ergänzte er: »Nun hoffe ich, Sie können mir helfen.«
Es war ganz sicher keine medizinische Angelegenheit, die ihn so beschäftigte. Judith Brunner beeilte sich zu versichern: »Gern. Was ist denn passiert?«
Ohne Zögern sagte Dr. Renz: »Nun – ich habe hier eine falsche Leiche gefunden.«
»Pardon?« Gehört hatte Judith schon, was Dr. Renz da sagte, der Satz verlangte aber nach einigen erklärenden Worten. »Eine falsche Leiche?«, echote sie.
»Schon die ganze Woche über fehlen in der Pathologie die Leute und ich helfe ein wenig aus. Vor mir liegt nun jemand auf dem Tisch, der eindeutig nicht zu der mir beschriebenen Person passt und auch nicht zu der Akte, die die Krankenhausverwaltung zu dem verstorbenen Patienten hergeschickt hat. Und bevor Sie fragen: Die anderen Toten, die sich hier befinden, passen zu ihren Akten. Das habe ich schon überprüft.«
»Die anderen Toten? Wie viele haben Sie denn?« Judith Brunner verdrängte
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