Giftweizen
das Bild von einem Keller voller Leichen.
»Insgesamt drei. Das ist nicht ungewöhnlich für ein Kreiskrankenhaus«, beeilte sich Dr. Renz zu versichern. Dann fuhr er fort: »Eine Verwechslung in der Pathologie ist auszuschließen. Und die Schwester in der Patientenregistratur teilte mir auch sehr bestimmt mit, sie hätte keinen Fehler gemacht; ich hätte genau die Patientenakte bekommen, die von der Inneren Medizin zu dem Mann geführt worden war.«
Judith Brunner dachte einen Moment über das Gesagte nach und schwieg.
Noch ehe sie eine weitere Frage formulieren konnte, fuhr Dr. Renz fort: »Was mich beunruhigt, ist natürlich nicht, dass eine Leiche verwechselt wurde. Dazu praktiziere ich schon zu lange und kann mit einigen fast filmreifen Anekdoten aufwarten.«
Bei Judith wuchs die Spannung. »Sondern?«
»Was mich in Unruhe versetzt, sind bestimmte Merkmale an der Leiche, die auf ein Schicksal hindeuten, welches Grund genug für einen absichtlichen Identitätswechsel sein könnte, und natürlich die Art und Weise, wie ich die Leiche fand.«
»Und hier kommt die Polizei ins Spiel?«, vermutete Judith.
»Richtig, Frau Hauptkommissarin. Ich bin erfreut, dass Sie sich so hervorragend mit den Vorschriften zur Leichenschau auskennen. Der Tote hat viele Narben, zwar älteren Datums, trotzdem tippe ich auf Schussverletzungen. Diesem Mann ist zu Lebzeiten etwas Schreckliches widerfahren.«
»Das klingt in der Tat beunruhigend. Und die Patientenakte hätte das dokumentieren müssen?«, fragte sie.
»Das auch. Sicher. Aber die Akten sind nicht immer so vollständig, wie das wünschenswert wäre.«
»Ach ja?«, meinte Judith Brunner ironisch, denn diesen Makel kennzeichneten auch polizeiliche Ermittlungsakten, wie sie in einigen Fällen hatte erfahren müssen.
»Mein Anruf hat noch andere Gründe, doch ehe ich am Telefon weiter ins Detail gehe, wollte ich Sie eigentlich bitten, bei mir vorbeizukommen, um Ihnen die ganze Situation vor Ort zeigen zu können. Ich möchte nichts übersehen, aber auch kein grundloses Aufsehen erregen. Ihr professioneller Rat würde mir schon helfen, die Angelegenheit hinsichtlich ihrer Konsequenzen besser einordnen zu können. Rein verfahrenstechnisch, meine ich.«
Judith Brunner versprach, sich sofort auf den Weg ins Krankenhaus zu machen. Noch konnte sie nicht ahnen, dass sie es bald mit einem ihrer verwirrendsten Fälle zu tun bekommen würde.
~ 5 ~
Walter Dreyers neuer Passagier hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen, als bedürfe es tatsächlich seiner wegweisenden Hilfe; dabei gab es nur diesen Sandweg, um die Stelle am Ferchel zu erreichen, zu der sie nun im Schritttempo unterwegs waren.
Laura hatte widerspruchslos die Rückbank besetzt. Sie war gespannt, was sie wohl zu sehen bekommen würden. Handschuhe? Hände? Den Treckerfahrer aus Wiepke kannte sie nicht, dazu war sie dort viel zu selten unterwegs. Ein wenig sonderlich kam er ihr schon vor.
Ludwig Wenzel hatte sich mittlerweile wieder gefasst und wurde in Gesellschaft sogar recht munter. »Das sieht vielleicht eklig aus!«, kündigte er an, nun heftig mit der Sensation, die er zu bieten hatte, prahlend, und blickte interessiert zu Laura auf den Rücksitz. Ob diese nett anzusehende Person, auf jeden Fall aus der Stadt, wie er sofort mutmaßte, den Anblick aushalten würde? Eigentlich hatte er selber ja auch noch nichts Genaues gesehen, trotzdem gelang es ihm, seinen Bericht fantasievoll auszuschmücken.
Walter Dreyer sah auf dem geraden Weg schon von Weitem eine hoch aufragende Gestalt stehen.
Botho Ahlsens wartete geduldig, kam ihnen dann aber doch, als er das Auto erkannte, ein paar Schritte entgegen.
Nach langen Minuten holperiger Fahrt hatten sie ihn erreicht. Walter Dreyer stieg aus und gab ihm die Hand. »Guten Tag.«
»Das ging aber rasch«, staunte Ahlsens, »so schnell hatte ich gar nicht mit Ihnen gerechnet.«
»Ein Glücksfall«, erklärte Dreyer, »wir sind« – er überlegte nach einem passenden Begriff für Wenzels Treckeranschlag – »auf der Straße zufällig aufeinandergestoßen. Ich habe Laura vom Zug abgeholt.«
»Astrid hat erwähnt, dass sie heute kommt«, sagte Botho Ahlsens und rief winkend zum Wagen: »Herzlich willkommen!« Er kannte Laura schon, seit sie gemeinsam mit seiner Nichte im Kindergarten gespielt hatte, und über all die Jahre fühlte er eine warmherzige Zuneigung für die junge Frau.
Laura stieg aus und umarmte ihn.
Nach dieser unbeschwerten Begrüßungszeremonie forderte Walter Dreyer
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