Ginster (German Edition)
Meinetwegen können Sie auch hier bleiben. Das Saumensch, heute war sie schon wieder da.«
Auf dem Tisch lag eine Karte von der Mutter. Sie schrieb, daß Ginster sofort zurückkommen möge, da ihm Herr Allinger doch vermutlich kündigen werde. »Es ist schrecklich, wie wir überfallen worden sind. Die Engländer sind jetzt auch dabei, ich hatte es mir gleich gedacht. Onkel meint, daß der Krieg lange dauern könne, zweifelt aber nicht am guten Ausgang. Du mußt sehen, daß Du zu Hause etwas verdienst, in M. kannst Du auf keinen Fall bleiben. Packe Deine Sachen gut zusammen. Für die Bücher wirst Du eine Holzkiste gebrauchen.« Unter NB.: »Denke Dir, Otto hat sich freiwillig gemeldet!«
Zum erstenmal spürte Ginster die Nähe des Krieges. Der ermordete Erzherzog war ihm gleichgültig gewesen, Ottos Meldung betraf ihn selbst. Otto war jünger als er, erst zwanzig; eigentlich hatte er für Kriege ebensowenig Begabung wie Ginster. Wenn Otto sich freiwillig stellte, mußte sich auch Ginster mehr mit dem Krieg befassen. Seit der Kriegserklärung waren die Menschen verrückt, niemandsprach mehr von wichtigen Dingen. Vielleicht ging Otto aus Begeisterung mit, er wollte das Vaterland verteidigen, wie es allgemein hieß. Man muß sich also begeistern, sogar Otto ist hingerissen. Ginster war über seine eigene Schlechtigkeit traurig. Zum Glück fiel ihm ein, daß er schon bei mehreren Gelegenheiten ähnliche Gefühle wie die Ottos in sich vorgefunden hatte. Er liebte zum Beispiel Militärmusik. Wenn am Sonntag die Wachtparade vor der Residenz aufzog, lief er immer ein Stück nebenher. Auf dem Residenzplatz wurden auch Tauben gefüttert, gezähmte Tauben für das Publikum, das sich durch die Verteilung von Brosamen zerstreuen und zugleich wohltätig erweisen konnte – aber Ginster kümmerte sich nicht um die Täubchen, sondern entzückte sich an den kriegerischen Märschen und dem Paradeschritt der Kompanie. Eine gewisse Enttäuschung bereitete ihm stets die Unterbrechung der Musik durch das Trommeln und Pfeifen. Solange die Trompeten schmetterten, träumte er von girlandengeschmückten Städten und dem Jubel der Menge. Der Gedanke, selbst in einer Uniform mitzumarschieren, lag ihm allerdings fern. Eindeutig zu seinen Gunsten sprach ein Vorfall in Genua vor etwa zwei Jahren. Auch damals war es eine Kapelle gewesen, der er das Bewußtsein, einer Nation anzugehören, zu verdanken hatte. Er hatte sich in Genua zu Beginn einer Ferienreise mit einem Studienkollegen namens Linke verabredet, der von Hamburg aus über Afrika im Lloyddampfer eintreffen wollte. Linke war ein kleiner schwarzer Mann, der Ginster in allen praktischen Dingen seine Protektion angedeihen ließ. Ginster wartete auf der Mole, als das Schiff langsam einlief. Um ihn herum wurde italienisch und französisch gesprochen. Mit einem Male hörte er Musik, heimische Klänge. Die Bordkapelle spielte Studentenlieder und patriotische Weisen. Mitten in der Fremde, deren Fremdheit er noch übertrieb, um sich abenteuerlicher vorzukommen, wurde er in die Heimat versetzt. Er war gerührt wie über eine schöne Ansichtskarte, die ihm bewies, daß man seiner gedachte. Linke stand am Fallreep, in eine karierte Reisemütze und einen neuen Ulster gehüllt. Ginster bewunderte ihn, wie er so selbstverständlich da oben stand, ein Gruß aus der Heimat, fast schon ein Engländer mit der Pfeife. Die Überlegenheit des Weltreisenden haftete ihm noch bei der Begrüßung an. Auf die Frage, wie es in Afrika gewesen sei, antwortete er mit Auskünften über den Tonnengehalt des Dampfers. Das Schiff trug einen vaterländischen Namen.
Anderen Tages beschloß Ginster, sich freiwillig zu melden. Es war notwendig; nicht nur Ottos wegen, sondern weil etwas geschehen mußte. Er erkundigte sich nach der Kommandantur. Auf der Straße mischte er sich in Unterhaltungen. »Durch unseren Einmarsch in Belgien werden wir mit den Franzosen leichtes Spiel haben« – ohne Zögern behauptet. Genau genommen, wollte er nur beobachten, ob ihm solche Dinge überhaupt zu sagen gelängen, man mußte sich üben. In der letzten Zeit war er mehrmals zugegen gewesen, wie andere Personen unter Beifall ähnliche Urteile abgegeben hatten. Kaum äußerte er seine Meinung – eine Meinung, von der er voraussetzen durfte, daß sie dem Bedürfnis der Leute entsprach –, so wurde ihm mit Mißtrauen begegnet. Das Publikum sah ihn erstaunt an, und einer bemerkte, daß die Franzosen auch nicht so ohne wären. Allgemeine
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