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Ginster (German Edition)

Ginster (German Edition)

Titel: Ginster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Kracauer
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Zustimmung ward ihm zuteil. Hätte Ginster die gleiche Ansicht vertreten, er wäre vermutlich der Polizei ausgeliefert worden. So ging es ihm häufig. Wenn er sich zu den üblichen Überzeugungen bekannte, wurden sie sofort preisgegeben, um den gegenteiligen Anschauungen das Feld zu räumen. Ein Messergeschäft lag an seinem Weg. Jeden Tag betrachtete er die blitzende Auslage: den Zug der hängenden Tranchierscheren, die Rasierzeuge, die schönen Zahnzangen und die Degenpaare, die sich kreuzten. Für die Vorder- und Backenzähne gab es verschiedene Zangen, das geringste Instrument hatte seinen besonderen Zweck. Ginster vergaß über dem Glanz der gehäuften Stahlformen die durch ihren Gebrauch zugefügten Schmerzen. Der Staub wich vor den Klingen zurück, und nicht ein einziges Rostfleckchen trübte ihre spiegelnden Flächen. Was auch später mit ihnen geschah: sie konnten an Vollkommenheit nur verlieren. Darum unterließ es Ginster immer wieder, sein altes schartiges Taschenmesser durch ein neues zu ersetzen. Hatte er aber irgend einen metallischen Gegenstand erworben, so lebte er ununterbrochen für seine Blankheit bis zu dem Augenblick, in dem der erste Fleck dem Reiben widerstand. Ihn anzusehen, vermied er dann lange Zeit.
    In dem schattigen Torbogen der Kommandantur standen schwatzende und rauchende Gruppen. Männer in Lodenhütchen, Schaftstiefeln und Werktagsanzügen. Auf manchen Hüten wippte vergnügt eine Feder wie ein Vögelchen, das jederzeit auffliegen kann, wenn es will. Die Arbeitsröcke hatten es an einem gewöhnlichen Vormittag selten so schön. Das Bewußtsein, einen Gratisfeiertag zu haben, steigerte noch das gesunde Aussehen der Männer, deren braune Landfarbe freilich gegen das Giftgrün ihrer Hütchen nicht aufzukommen vermochte. Militärpersonen unterhielten sich ohne Förmlichkeit mit den Leuten. Niemals hätte Ginster geglaubt, daß eine Vermischung des Militärs mit den Zivilisten stattfinden könne. DasMilitär war eine Klasse für sich, die in strenger Absonderung von der Zivilbevölkerung lebte. Am liebsten wäre er umgekehrt, die viele Gesundheit strengte ihn an. Um die Lage zu erschweren, rauschte auch noch der Assessor in seiner funkelnagelneuen Montur vorbei. Ehe sie Ginster sich einprägen konnte, war er verschwunden.
    Das Folgende ereignete sich schnell. Treppe und Gänge mit Hütchen besetzt. Hinauf, hinab, gradaus, linksum. Ein Zimmer Nr. 327. Lauter Männer im Zimmer, eine Litewka am Tisch. Ginster: »Verzeihung, ich wollte nur fragen, ob ich mich freiwillig melden kann, Eisenbahner, gestatten Sie höflichst.« Noch einmal gefragt. Die Litewka: »Was wollen Sie?« Noch einmal gefragt. Ginster wird wie eine Ware flüchtig überschlagen. Soll warten, käme später schon dran. Die Männer flüstern. Verbeugung, draußen wieder giftgrüne Hütchen. Rechtsum, gradaus, hinauf, hinab. Torbogen. Straße.
    Es zwitscherte in den Bäumen, jetzt konnte er in Ruhe zu Mittag essen. Mehr ließ sich nicht tun; auch Otto hatte nicht mehr getan. Auf die Eisenbahner war er durch Ulla gekommen. Er hatte sie auch in der heimlichen Erwartung gewählt, daß dort nur kräftige Leute verwandt werden könnten. Kräftig war er bestimmt nicht. Für den Fall der Einstellung hatte er damit gerechnet, daß Eisenbahnschwellen nur hinter der Front geschleppt werden. Die Zeitungen meldeten: Große Kämpfe im Gang. Seit Ginster im Zimmer 327 gewesen war, fühlte er sich mit den Heeren verknüpft. Die Männer mit den Hüten schienen sich lediglich um Militärgebäude zu sammeln. Morgen müsse er packen; die Kiste für seine Bücher nicht zu vergessen. Vor dem Wiedersehen mit Otto war ihm bang.

II
    Ginster stammte aus F., einer historisch gewachsenen Großstadt, an einem Fluß, zwischen Mittelgebirgen. Wie andere Städte auch, nutzt sie ihre Vergangenheit zur Hebung des Fremdenverkehrs aus. Kaiserkrönungen, internationale Kongresse und ein Bundesschützenfest fanden in ihren Mauern statt, die schon längst in öffentliche Anlagen umgewandelt sind. Dem Gärtner ist ein Denkmal gesetzt. Einige christliche und jüdische Familien führen ihre Entstehung auf Ahnen zurück. Auch Familien ohne Herkunft haben es zu Bankfirmen gebracht, die Beziehungen mit Paris, London und New York unterhalten. Kultstätten und Börse sind nur räumlich voneinander getrennt. Das Klima ist lau, die nicht im Westend wohnhafte Bevölkerung, zu der Ginster gehörte, kommt kaum in Betracht. Da er überdies in F. aufwuchs, wußte er von der

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