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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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ich jetzt eine Kapsel nahm, würde die Wirkung sicher noch anhalten, bis Emily kam – wenn sie kam. Außerdem waren noch fünfzehn Kapseln in der Tüte. Auf eine mehr oder weniger kam es da kaum an.
    Ich nahm eine heraus, drehte sie einen Moment zwischen den Fingern, ging in die Küche und spülte sie mit einem Glas Milch herunter.
    Zunächst spürte ich nichts. Ich setzte mich wieder an den Laptop und steuerte meinen Helden die Schlucht entlang. Hier schien es keine Gegner zu geben. Dafür musste ich, wie mir schien, endlos lange einen düsteren Pfad entlangwandern.
    Während ich den Helden mit der Maus vorwärtsbewegte, hatte ich das Gefühl, dass der Laptop-Monitor allmählich heller und größer wurde. Er schien bald mein ganzes Blickfeld auszufüllen. Gleichzeitig verlor ich das Gefühl, nur eine Maus in Händen zu halten, mit der ich den Helden steuerte. Stattdessen bekam ich immer stärker den Eindruck, selbst dieser Held zu sein. Es war, als sähe ich mich von schräg oben wie in einem dieser seltsamen Träume, in denen man seinen Körper verlässt. Ich konnte beinahe den harten Fels unter meinen Füßen spüren, das vertraute Gewicht der Rüstung auf meinen Schultern, die kühle Luft am Grund der Schlucht. Ich hörte jetzt deutlich das leise Knarzen der ledernen Scheide an meinem Schwertgurt – ein Geräusch, das ich bisher nicht wahrgenommen hatte.
    Ich erreichte das Ende der Schlucht. Zwei riesige Statuen standen dort. Gewaltige Krieger, ausgerüstet mit Schwert, Schild, Rüstung und Helm wie ich selbst, blickten mit ausdruckslosen Mienen auf mich herab. Zwischen ihnen führte eine lange, schmale Treppe empor.
    Am Ende der Treppe befand sich ein kleiner Tempel. Schalen mit brennendem Öl erhellten den mit Marmor ausgekleideten Innenraum. Ich glaubte, den Geruch exotischer Gewürze wahrzunehmen.
    In der Mitte des Raumes saß auf einem erhöhten Thron eine schwarzhaarige Frau. Sie trug ein langes weißes Gewand. Obwohl das Bild auf dem Laptopmonitor zu klein war, um ihre Gesichtszüge im Detail zu erkennen, spürte ich ihren Blick. Er ging mir durch Mark und Bein.
    »Willkommen, junger Krieger«, sagte die Frau.
    Ich erstarrte. Es war Emily.
    Nein, das konnte nicht sein. Die Stimme, die aus dem Laptop gekommen war, ähnelte ein wenig der von Emily, mehr nicht. Es war ein dunkles, ein wenig rauchiges Timbre, wie man es von einer mystischen Figur in einem Computerspiel erwarten durfte. Wahrscheinlich verzerrte die Droge meine Wahrnehmung, so dass ich sie unbewusst mit realen Personen in Beziehung setzte.
    »Ich weiß, warum du hier bist«, fuhr die Frau fort. »Du suchst das Tor des Lichts.«
    »Ja«, sagte ich unwillkürlich.
    »Ja, Orakel«, sagte gleichzeitig meine Spielfigur. Ihre Stimme war dunkel und kräftig wie die von Eric in seiner Traumwelt. »Kannst du mir sagen, wo ich es finde?«
    »Gehe zum Tempel der Wahrheit und sprich mit der Ersten Mutter. Sie wird dir den Weg weisen. Doch es ist weit bis dorthin. Viele Gefahren liegen vor dir.«
    »Wo liegt dieser Tempel?«
    »Folge den schwarzen Vögeln. Aber hüte dich vor dem brennenden Mann!«
    Etwas wie ein kalter Lufthauch schien bei ihren Worten durch Erics Zimmer zu wehen, so als hätte jemand ein Fenster geöffnet. Ich blickte vom Monitor auf und sah mich um, aber natürlich war es nur Einbildung.
    Ich speicherte, klappte den Laptop zu und fuhr ins Krankenhaus.

11.
    Auch an diesem Tag wartete ich vergeblich auf Emily.
    Maria war ebenfalls noch nicht wieder zum Dienst erschienen. Ich ging vor die Tür des Krankenhauses und rief Emilys Nummer an. Wie gestern sprach ich ihr eine Nachricht aufs Band, wusste jedoch, dass sie sich nicht zurückmelden würde.
    Wut stieg in mir auf. Sie ließ mich im Stich! Sie verhinderte, dass ich Eric retten konnte. Das konnte ich nicht akzeptieren!
    Ich fuhr nach Hause. Google kannte mehrere Personen mit Namen Emily Morrison in New York, doch keine davon schien mit Marias Tante identisch zu sein. Emily stand auch in keinem Telefonverzeichnis, so dass ich nicht herausbekam, wo sie wohnte. Dafür fand ich aber die Adresse, die zu Marias Telefonnummer gehörte. Sie anzurufen, hätte wohl wenig Sinn gehabt, also beschloss ich, direkt zu ihr zu fahren und sie um Emilys Adresse zu bitten.
    Maria wohnte zusammen mit zwei Studentinnen in einer kleinen Wohnung in Brooklyn auf der anderen Seite des East River. Als ich dort eintraf, war es bereits neun Uhr. Eine junge Frau mit runder Brille und krausem, blondgefärbtem Haar

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