Für ein Lied und hundert Lieder
Ein Brief von Liu Xiaobo an Liao Yiwu nach Lektüre von dessen Manuskript zu »Für ein Lied und hundert Lieder«
Mein lieber Liao,
warum quälst Du mich so! Wenn ich Deine Stimme höre, frage ich mich immer, ob ich eigentlich das Recht habe weiterzuleben. Ich weine, aber meine Tränen fließen nach innen, danach geht das Leben weiter, so schamlos und leichthin wie immer. Die Menschen sind tot, nur die Hunde sind davongekommen! Bin ich ein Hund? Sind wir alle Hunde? Jetzt nur kein Selbstmitleid! Hunde sind wenigstens noch Hunde, verdammt nochmal, aber sind die Chinesen noch Menschen? Wer findet wohl eher Gnade in den Augen des Schöpfers, Menschen, die keine Menschen mehr sind, oder Hunde, die sich wenigstens noch aufführen wie Hunde? Aber wir sind nicht einmal so viel wert wie Hunde, unsere Nachkommen sind weniger wert als Hunde. Die Chinesen sind nichts. Und wir, diese sogenannte Elite, sind nichts. Das Blut, das vergossen wurde, ist nichts, der Verrat ist nichts, das Vergessen ist nichts. Wegen Deines Gedichts »Massaker« hast Du vier Jahre im Knast gesessen, ich denke, das war es wert.
Der Knast gibt dem einsamen bisschen Gewissen mehr Trost als all die Reue und die ganzen Selbstvorwürfe. Du solltest mit ihnen wirklich keine Lesung veranstalten, Deine Welt ist längst eine andere, während sie doch sehr normal sind und vernünftig, da macht XX keine Ausnahme. Die einzige Rechtfertigung dafür, dass ich mit dieser Schande weiterlebe, ist die, dass ich es für die Unglücklichen tue, deren Blut geflossen ist. Der »4. Juni« war für mich der schwärzeste und der blutigste Tag, und all die Tage und Nächte danach waren weder schwarz noch rot. Wenn Schamlosigkeit eine Farbe hat, dann diese. Womit man nicht fertig wird, damit wird man niemals fertig, selbst wenn wir eines Tages den Unglücklichen Trost spenden können sollten, die für unser Land gestorben sind. Aber ich muss Dir noch danken, und deshalb sage ich Dir mit dem letzten Rest an Ehrerbietung, den ich aufbringen kann: »Ich danke Dir, mein alter glatzköpfiger Freund!«
Xiaobo,
am 24. November 1999, zu Hause.
Vorwort
Am 10. Oktober 1995 stürmte die Polizei überraschend meine Wohnung in Chengdu, konfiszierte das Manuskript dieses Buches, das kurz vor dem Abschluss stand, und verkündete, ich würde nach dem Gesetz für zwanzig Tage unter bewachten Hausarrest gestellt. In dieser Situation blieb mir nichts anderes übrig, als das ganze Buch noch einmal zu schreiben, was mich drei Jahre meines Lebens kostete.
Zuvor hatte die Polizei zwischen dem 16. und 19. März 1990 dreimal meine Wohnungen in Chongqing und Fuling durchsucht. Anlass waren die Geschehnisse, an die dieses Buch erinnern sollte; dabei wurden meine sämtlichen Manuskripte aus den 80er Jahren konfisziert, insgesamt etwa 1 500 000 Schriftzeichen, das sind fast zweitausend Seiten in einer westlichen Sprache. Danach stürmten sie im September 1998, im März 1999 und im Dezember 2002 meine Wohnungen u.a. in Beijing, Jiangyou und Chengdu; ich wurde verhaftet, durchsucht, man raubte mir sämtliche Manuskripte (über 1000 Seiten), darunter auch »Fräulein Hallo und der Bauernkaiser – Chinas Gesellschaft von unten« und die »Aufzeichnung der Justizverbrechen in China«.
Bei jedem dieser Desaster kam mir der gleiche Gedanke in den Sinn wie Solschenizyn, wenn der KGB wieder einmal sein Manuskript des »Archipel Gulag« beschlagnahmt hatte: »Sofort veröffentlichen!«
Aber die Zeiten haben sich geändert, mir bleibt nichts anderes übrig, als Höhlen zu graben, immer mehr Höhlen, wie eine Maus, und die überlebenden Texte immer sorgfältiger an immer entlegeneren Orten zu verstecken …
Einleitung
Im März 1990 hat das Amt für Öffentliche Sicherheit des chinesischen Staates in Chongqing einen außerordentlich großen Fall von Konterrevolution aufgedeckt; überführt wurden ausnahmslos nichtstaatliche Avantgarde-Dichter und Künstler von einem gewissen Einfluss. Es handelte sich dabei um Liao Yiwu, Wan Xia, Liu Taiheng, Li Yawei, Ba Tie, Gou Mingjun und den Videokünster Zeng Lei. In über zehn Städten wie u.a. Chongqing, Chengdu, Fuling, Leshan, Nanchuan, Beijing, Shenzhen und Shanghai wurden Kulturschaffende vorgeladen, vor Gericht gestellt, in Prozesse verwickelt, inhaftiert – darunter die Romanautoren Zhou Zhongling und Wu Bin, die Dichter Shi Guanghua, Liu Xia, Liu Yuan, Zou Jin, Wei Haitian, Zhu Ying, Bai Yunfeng, Song Wei, Li Mai, Liang Yue, Kuang
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