Glasklar
hatten sie schon viele Male an den Lagerfeuern zum Abschied gesungen. »Der Himmel wölbt sich übers Land, ade, auf Wiedersehn! Wir ruhen all in Gottes Hand, lebt wohl, auf Wiedersehn.« In Momenten wie diesen überfiel sie alle eine gewisse Schwermut. Wie Lichtblitze zuckten Erinnerungen durch ihre Gedanken. Vor einer halben Ewigkeit hatte sie das Schicksal zusammengeführt. Nur weil sie auf die Mittelschule übergewechselt waren, die später in Realschule umbenannt wurde, hatten sie sich kennengelernt. Nur einige von ihnen stammten aus dem kleinen Städtchen Geislingen am Rande der Schwäbischen Alb. Die meisten waren aus umliegenden Dörfern gekommen. Und nach der Schule hatte sie entweder die weitere Ausbildung oder die Liebe in alle Winde zerstreut. Erst viel später war in einigen von ihnen der Wunsch aufgekeimt, die alten Schulkameraden wieder einmal zu sehen.
»Die Sonne sinkt, es steigt die Nacht, vergangen ist der Tag …«, sangen sie weiter. Georg musste an das erste Treffen nach 20 Jahren denken, als er manche seiner Schulkameraden nur noch an der Stimme erkannte. Er war damals verstohlen zur Toilette gegangen, um sich selbst im Spiegel zu betrachten und zu überlegen, ob er sich wohl auch so stark verändert hatte wie die anderen. Mein Gott, was war aus ihnen geworden. Der Junge, der Testpilot hatte werden wollen, hatte sich zu einem erfolgreichen Geschäftsmann entwickelt. Er verkaufte angeblich in großem Stil Orchideen in München. Ein anderer, der gerne Astronaut geworden wäre, besaß einen Zeitungskiosk und verkaufte dort jetzt Science-Fiction-Literatur. Polizisten hatten sie in ihren Reihen, Lehrer, Beamte in verschiedenen Ämtern und Positionen, natürlich auch Hausfrauen. Einige waren nicht mehr aufzufinden, andere hatte es nach Übersee verschlagen, wie etwa die Isolde, die mit einem Hotelmanager durch die Welt zog. Und Ulla töpferte irgendwo in Frankreich am Atlantik.
Jedenfalls hatten sie sich bei dem ersten Treffen damals geschworen, regelmäßig in Kontakt zu bleiben. Anfangs entwickelte sich dies mühsam, doch als die segensreiche Erfindung des Mailings aufkam, wurden die Bande enger geknüpft.
»So ist in jedem Anbeginn das Ende nicht mehr weit …« Georg hatte den Faden verloren und versuchte, sich wieder in den Text einzudenken, den seine Partnerin auswendig kannte.
Auch Werner und seine neue Freundin schienen tief in die Botschaft des Liedes versunken zu sein und in der Glut des Feuers Halt zu suchen.
»Wir kommen her und gehen hin, und mit uns geht die Zeit«, sangen sie gemeinsam weiter. Katrin sah in die Runde. Irgendwie hilflos, dachte Uli, der sie gerade unauffällig von der Seite gemustert hatte. Er nahm sich fest vor, sie in den nächsten Tagen anzurufen. Als erfahrener Pädagoge und gläubiger Christ hatte er einen geübten Blick für die Sorgen seiner Mitmenschen. Unauffällig wie immer, sah er in die Gesichter der Schulfreunde und ihrer Partner. Einige hatten den ganzen Abend über kaum etwas geredet, zumindest nicht an der allgemeinen Konversation teilgenommen und sich nur auf die unmittelbaren Sitznachbarn konzentriert. Das hatte Uli schon oft bedauert, zumal es vorkommen konnte, dass er mit einigen zwar stundenlang ums Lagerfeuer saß, aber kein Wort mit ihnen wechselte.
»Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis«, Ulis Frau Angelika kam zum letzten Vers. »Das Leben ist kein Spiel. Nur wer es recht zu Leben weiß, gelangt ans große Ziel.« Laue hatte gewiss jedes Wort mit Bedacht gewählt und nur wenige gebraucht, um viel auszudrücken.
»Der Himmel wölbt sich übers Land, ade, auf Wiedersehn! Wir ruhen all in Gottes Hand, lebt wohl, auf Wiedersehn.« Schweigen. Angelika legte ihre Gitarre beiseite.
Das Feuer knisterte. Ein sanfter Wind war aufgekommen und trieb den Rauch, der bisher mit den Funken senkrecht aufgestiegen war, direkt Werner und seiner Freundin ins Gesicht. Beide wandten sich ab und stiegen nach hinten über den Baumstamm hinweg, um sich dem beißenden Qualm zu entziehen. »Wir wollten eh gehen«, sagte Werner und deutete in Richtung des Albvereinshauses. »Wir schau’n da drüben noch vorbei.« Seine Begleiterin sagte nichts, während sie beide mit einem »Tschüss« aus dem Flammenschein verschwanden und nach ein paar Schritten zu einem grau-schwarzen Schattenumriss verschmolzen, der sich bald in der dunklen Ferne verlor.
»Ich geh mit«, meinte Heidelinde und erhob sich.
Zurück blieb eine nachdenkliche Stille. Katrin hatte sich
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