Glasklar
wurden. Seine Freunde schwiegen. Nur das Knacken des glühenden Holzes durchbrach die nächtliche Stille. Drüben am Wasserberghaus stimmten die ›Wilden Gesellen‹ ein neues Wanderlied an.
Georg hob den Kopf und sah, wie der Flammenschein auf den nachdenklich gewordenen Gesichtern tanzte. Joachim, den er nur als dunklen Umriss ganz außen wahrnahm, stocherte mit einem langen Stock in der Glut. »Kaum haben wir so einen Randalierer geschnappt«, berichtete er aus seiner langjährigen Berufserfahrung als Polizist, »da lässt ihn der Richter auch schon wieder laufen. Und dann vergehen bis zur Gerichtsverhandlung viele Monate – Zeit genug, um neue Straftaten zu verüben. Obwohl der Staatsanwalt immer behauptet, es werde so schnell wie möglich angeklagt. Soll ich euch sagen, wie man sich da als Polizist vorkommt?« Er schlug mit dem Stock kräftig ins Feuer, sodass explosionsartig eine Wolke aus wild sprühenden Funken in die Höhe schoss, so schnell, dass sie nicht als winzige Punkte wahrzunehmen waren, sondern als dünne orangefarbene Fäden, die von der Dunkelheit gelöscht wurden.
Die Menschen am Lagerfeuer wurden melancholisch. Alkohol und aufkommende Müdigkeit, aber auch der Wunsch, endlich Fragen auf die ewig ungeklärten Probleme der Menschheit zu finden, führten zu Diskussionen über Gott und die Welt und über alles, wofür es seit Jahrtausenden keine Antworten gab. »The answer, my friend, is blowing in the wind«, stimmte Angelika an, die Frau des Klassenkameraden Uli, die in Nächten wie heute gerne Gitarre spielte. Heidelinde, die neben ihr saß, hatte sich die Mühe gemacht und am Computer ein Liederbuch zusammengestellt, das die wichtigsten Texte enthielt. Angelika entschied sich anschließend für ›Fliege mit mir in die Heimat‹. Es war eines von Georgs Lieblingsliedern, weil es vom Fliegen und vom Fernweh erzählte und er doch für alles, was flog und Flügel hatte, schwärmte. Er nahm noch einen Schluck aus seinem Bierkrug und erntete dafür einen gestrengen Blick von seiner Partnerin Doris.
Als Angelika ihre Gitarre neben sich ins Gras legte, erhob sich Uli, ihr Mann, der jedem Ranger zur Ehre gereicht hätte. Sein breitkrempiger Lederhut warf einen finsteren Schatten auf sein Gesicht, als er die paar Schritte zu einem Biertisch ging, den sie vom Wirt der Albvereinshütte ausgeliehen hatten, um ihre mitgebrachte Vesper und ihre Rucksäcke darauf zu deponieren. Uli, ein pragmatischer Mann, der überhaupt nicht dem Klischee eines Lehrers entsprach, griff sich das spitze Küchenmesser, in dessen langer Klinge sich der Mond spiegelte, und schnitt mit geübter Fingerfertigkeit einen Rettich in Scheiben.
»Bringst du mir auch was mit, Uli?«, hörte er hinter sich die Stimme von Katrin, einer stillen Kollegin, die jedoch nicht an seiner Schule, sondern an einer anderen tätig war. Sie trafen sich meist nur beim ›Mammutfest‹, konnten dann aber ausgiebig über Lehrermangel und ihre Machtlosigkeit im Unterricht klagen – oder sich gegenseitig trösten. Katrin war geschieden und psychisch angeschlagen, wie es ihm schien. Er hatte sich vorgenommen, sie in den nächsten Wochen zum Kaffee einzuladen.
Er legte das Messer zurück, nahm die Rettichstückchen in seine kräftigen Hände, die er zu einem Halbrund geformt hatte, und hielt sie Katrin vor. »Nimm, was du willst«, forderte er sie auf und sah, wie die stobenden Funken in ihrer randlosen Brille blitzten.
»Singen wir noch was?«, rief Werner in die Runde, der den ganzen Abend über nicht viel gesprochen hatte. Er hielt sich meist diskret zurück, so wie er dies auch in seinem Job bei der Steuerfahndung gewohnt war. Nur wenn er richtig in Fahrt war, was nach ein paar Bierchen der Fall sein konnte, begann es, aus ihm herauszusprudeln. Anfangs noch hatte er die Einladungen zu solchen Treffen ignoriert. Nicht einmal zu der gemeinsamen 50er-Feier war er gekommen. Erst voriges Jahr, nachdem er sich von seiner Frau getrennt hatte, war er beim ›Mammutfest‹ aufgetaucht – und kaum einer seiner ehemaligen Schulkameraden hatte ihn erkannt. Ein seltsames Gefühl war das schon gewesen – nach all den Jahren. Doch diesmal fühlte er sich schon besser, zumal er mit einigen aus der Runde seither hin und wieder Mails ausgetauscht hatte. Seine neue, wesentlich jüngere Partnerin Sabine schien sich in diesem Kreis ohnehin wohlzufühlen. Sie gab sich weitaus redseliger als er, ließ sich über die aktuelle Politik aus und bemängelte das ihrer
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