Glasklar
erneut das Kleiderbündel ins Visier, das zwei, drei Meter entfernt auf dem dicht bewachsenen Waldboden lag. Dann erst wurde ihm bewusst, was die rote Flüssigkeit nur sein konnte: Blut.
Sabine war beunruhigt. Sie hatte bis 9 Uhr geschlafen und sich auf einen Sommertag mit Werner gefreut. Nun rief sie ihn schon zum fünften Mal an, und er meldete sich weder auf dem Festnetz noch an seinem Handy. Dabei hatten sie heute Nacht, als sie auf dem Wasserberg getrennte Wege gegangen waren, fest ausgemacht, dass sie sich am Vormittag wieder treffen wollten. Die Enddreißigerin mit den schulterlangen schwarzen Haaren war in ihr kurzes Hauskleidchen geschlüpft und zum Fenster gegangen, von dem aus sie die ganze Albkette überblicken konnte. Von dort schien ihr die heiße Sonne entgegen. Irgendwo auf einem dieser bewaldeten Hänge war sie bis spät in die Nacht hinein geblieben, dann aber mit einer von Werners Schulfreundinnen zum Parkplatz gegangen, um heimzufahren. Sie war ein wenig enttäuscht gewesen, dass Werner noch bleiben wollte. Aber genau so hatten sie es bereits am frühen Abend ausgemacht. Werner konnte durchaus ein geselliger Typ sein und war nach der Scheidung von seiner Frau in seinem Freiheitsdrang kaum noch zu zügeln. »Ich lebe jetzt und nicht morgen«, pflegte er zu sagen, und Sabine wollte ihm gar nicht widersprechen. Auch sie hatte eine gescheiterte Ehe hinter sich und wusste, dass es keinen Sinn machte, sich gegenseitig einzuengen. Denn nur, wer sich frei fühlte, war wirklich glücklich und konnte den anderen daran teilhaben lassen. Vorausgesetzt natürlich, man bewegte sich auf der gleichen Wellenlänge. Sabine versuchte, diese Gedanken zu verdrängen. Nächtelang hatten Werner und sie darüber diskutiert – und das Schönste war, dass sie in diesen Dingen übereinstimmten.
Sie drückte auf dem drahtlosen Telefon noch einmal seine Festnetznummer. Wenn sie um 12 Uhr, wie vereinbart, an einem Baggersee im Donauried sein sollten, dann musste er doch längst wach sein. Außerdem hatte sie insgeheim gehofft, er würde zu ihr zum Frühstück kommen. Sie überlegte krampfhaft, wen er vergangene Nacht noch beim Wasserberghaus hatte treffen wollen. Irgendeinen von den ›Wilden Gesellen‹, das wusste sie. Aber an dessen Namen konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr entsinnen. Vielleicht war es Gustav gewesen, einer seiner Schulfreunde, der nicht am Lagerfeuer gewesen war, sondern bei der Gesangsgruppe. Sabine überlegte, ob sie diesen Gustav anrufen sollte, doch dann fiel ihr ein, dass sie weder seine Telefonnummer noch seinen Nachnamen kannte, unter dem sie ihn im Telefonbuch würde finden können.
Sie unterbrach das Rufzeichen und legte das Telefon beiseite. Wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf. War er noch zu einer anderen gegangen? War sein Wunsch, noch bei den ›Wilden Gesellen‹ zu bleiben, nur ein Vorwand gewesen, um sie heimzuschicken? Es wäre nicht das erste Mal, dass sie von einem Mann betrogen wurde. Und so etwas wollte sie nie mehr erleben. Nie mehr. Das hatte sie sich geschworen. Aber Werner war anders, daran bestand kein Zweifel. Das hatte sie gleich bemerkt, nachdem sie sich bei dieser Protestveranstaltung gegen die Eisenbahntrasse begegnet waren. Ein einziger Blick hatte gereicht. Ach, was hatten sie in den Tagen danach E-Mails geschrieben! Inzwischen betrachtete sie ihr Zusammentreffen an jenem Abend in Weilheim als einen Wink des Schicksals. Beide hatten sie eine Beziehung gesucht und genaue Vorstellungen davon, wie es unter keinen Umständen mehr werden durfte. Es war wohl die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Wenn sie daran dachte, spürte sie noch immer dieses Herzklopfen. Sie hatte sich so sehr auf den Sommernachmittag an einem der Baggerseen gefreut. Vielleicht würden sie noch einen Platz bei den vielen Sträuchern kriegen, wo es Nischen gab, in denen man ungestört war. Vor zwei Wochen waren sie schon einmal dort gewesen und bis zur Dämmerung geblieben. Wie verrückte Teenager hatten sie sich gefühlt, als um sie herum der See stiller wurde und eine mondlose Sommernacht aufzog mit tausend Sternen über ihnen.
Wieder griff sie zum Telefon. Jetzt wollte sie es noch einmal mit der Handynummer versuchen. Fünf-, sechsmal erklang das Freizeichen. Dann endlich ein Klicken in der Leitung. »Hallo«, hörte sie eine Männerstimme, die ihr überhaupt nicht vertraut erschien. Sie stutzte und überlegte, ob sie sich verwählt hatte.
»Wer ist denn da?«, fragte sie
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