Glenraven
gerufen, und sie lauschte.
Baldwell’s war neu. Eingezwängt zwischen Sandra’s Imbiß und Alles-für-Sechs-Dollar wirkte der Laden hell, sauber und modern. Mit seinem grellgelben Interieur und seiner Fassade aus Chrom und Stahl wirkte er irgendwie fehl am Platz, zwischen all den renovierten Ziegelhäusern, die den Rest der Innenstadt ausmachten.
Ein paar Kunden schauten herüber, als Jayjay das Geschäft betrat. Sie sah niemanden, den sie kannte. Besser noch - sie sah niemanden, der sie kannte. Sie ging an Belletristik vorbei, die in einem Regal rechts von ihr untergebracht war. Vielleicht hatte sie ja das hergeführt - irgend etwas zu finden, das ihre Gedanken von der katastrophalen Situation ablenken würde. Aber sie ging weiter. Vorbei an Musik , vorbei an Wissenschaften … genau zu Reisen .
Aaah, Reisen. Vielleicht hatten ihre Füße etwas erahnt, das ihrem Verstand entgangen war. Sie betrachtete die Bücher, die vor ihr ausgebreitet lagen. Die ganze Welt war zu sehen - alles, was nicht Peters, North Carolina, war. Jayjays Puls beschleunigte sich. Keiner davon ist eine Million Meilen weit entfernt, dachte sie, aber es ist mit Sicherheit ein Ort darunter, der weit genug weg ist.
Es zog sie zu der Reihe mit den gold-schwarzen Fodor’s Reiseführern. Ihre Hände glitten über die Titel, ohne einen einzigen zu berühren. Sie wartete… wartete auf ein Zeichen.
Schottland.
Nein.
Australien.
Nein.
Was ist mit Irland? Japan?
Nein, das war es auch nicht.
Saudi-Arabien. Norwegen.
Nein. All diese Länder waren zwar sehr interessant, doch sie riefen nicht nach ihr. Sie waren nicht der Grund, aus dem sie Baldwell’s betreten hatte, aber irgendwo hier mußte er einfach sein.
Die Schweiz?
Nein.
Argentinien.
Nein.
Glenraven.
Ja, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf, und sie griff nach dem Buch.
Glenraven?
Jayjay runzelte die Stirn. Der Einband summte in ihren Fingern. Es war ein leichter, elektrischer Schlag, aber irgendwie wundervoll. Sie öffnete das Buch und streichelte über die Hochglanzseiten. Die Berührung des schweren Papiers war irgendwie sinnlich… betörend. Als sie eine der Illustrationen betrachtete, glaubte sie für einen Augenblick, Wildblumen und frisch gemähtes Heu zu riechen. Jayjay klappte das Buch wieder zu, und ein Kribbeln lief ihr über den Rücken.
»Ein vollständiger Führer mit den besten Bergwanderrouten, Schloßtouren und Volksfesten«, versprach der Klappentext. Das Photo zeigte eine zarte, luftige Burg am Ufer eines schimmernden blauen Sees, hinter dem zerklüftete Berge in den Himmel ragten. Im Vordergrund führte eine lächelnde, schwarzhaarige Frau mit blauen Augen, die in Landestracht gekleidet war, einen beladenen Esel über das Kopfsteinpflaster. Dahinter erstreckte sich eine mit goldenen, violetten und blauen Wildblumen übersäte Wiese bis an das Ufer des Sees.
Jayjay starrte auf den Umschlag. Sie war schon weit herumgekommen, und sie hatte bereits eine ganze Reihe Burgen und Schlösser gesehen - aber eine Burg wie diese? Und… Glenraven? Sie wußte, daß in Europa seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes eine Menge neuer Staaten entstanden waren, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, je irgend etwas über ein Land namens Glenraven gehört zu haben.
Jayjay schlug den Reiseführer auf, blätterte an der Einleitung, den Höhepunkten und Fodor’s Auswahl vorbei und stoppte bei der Landkarte. Glenraven lag mitten in den Alpen. Es war ein zwergenhafter Staat, der sich zwischen die italienisch-französische Grenze quetschte, ungefähr auf gleicher Höhe mit Mailand. Wenn man dem Maßstab der Karte vertrauen konnte, war es nicht viel größer als Liechtenstein.
Ihr war egal, daß sie noch nie etwas von diesem Land gehört hatte. Es lag weit genug weg und abseits der üblichen Reisewege. Glenraven schien ein guter Platz zu sein, um der Welt für eine Weile zu entfliehen, und… verdammt noch mal, es ließ ihr Herz höher schlagen. Das war schließlich auch etwas.
Jayjay blätterte einige Seiten zurück bis zur Einleitung.
»Zum ersten Mal seit mehr als vierhundert Jahren«, begann der Text, »öffnet Glenraven - Europas bestgehütetes Geheimnis - seine Grenzen für einige wenige ausgewählte Reisende aus dem Ausland. Der letzte Fremde, der Glenraven besucht hat, kam, als Christoph Kolumbus auszog, eine kürzere Route nach Indien zu entdecken, und der vorletzte sogar noch hundert Jahre früher. In den Jahrhunderten, die der
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