Gletschergrab
Kristín erkannte ihn sofort. Sie blieb an seinem Bett stehen, schaute auf ihn hinunter und konnte sich der Tränen nicht erwehren. Sie sah nur den Kopf und den Verband über dem einen Auge.
»Elías«, sagte sie leise.
»Elías«, wiederholte sie ein wenig lauter. Er regte sich nicht.
Sie hätte ihn am liebsten umarmt, ihn in ihre Arme genommen und sich vergewissert, dass er wieder ganz gesund werden würde. Dass ihm nichts geschehen war, was man nicht wieder gutmachen konnte, dass er ganz wiederhergestellt werden würde. Ihre Augen quollen über, die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, und sie zitterte am ganzen Körper. Elías hatte es überlebt, er würde leben. Im Krankenhaus würde er sich erholen und bald zu ihr nach Hause kommen.
Sie erinnerte sich daran, wie sie vor vielen Jahren in derselben Situation gewesen war, als er in das Auto gerannt war, aber sie hatte keine Schuldgefühle mehr, sie waren verschwunden. Ihr war jetzt klar, dass sie nicht die Verantwortung für Elías’ Leben 328
trug oder für das von jemand anderem. Es stand nicht in ihrer Macht, über Tod und Leben zu entscheiden.
Steves Tod hatte sie das gelehrt.
Sie wusste nicht, wie lange sie da gestanden hatte, als sie plötzlich jemanden hinter sich hörte.
»Kristín?«, wurde mit matter Stimme gefragt, sie schrak zusammen und drehte sich halb um. Ein Mann war von hinten an sie herangetreten, ohne dass sie es bemerkt hatte, und musterte sie. Er war hoch gewachsen und schlank, mit dichten schwarzen Haaren, die er aus der Stirn kämmte. Er trug einen Verband um den Kopf. Sie starrte ihn schweigend an.
»Kristín!«, sagte der Mann langsam.
»Wer bist du?«
»Kein Wunder, wenn du mich mit diesem Turban nicht erkennst«, sagte der Mann. »Wir haben uns schon einmal getroffen. Ich bin Júlíus.«
Sie brauchte einige Zeit, bis die Erinnerung an den Mann wiederkam, der ihr im Zelt zu Hilfe gekommen war, der sie wieder zum Leben erweckt und ihr ins Ohr geflüstert hatte.
»Júlíus!«, sagte sie leise, wie zu sich selbst. »Mein Gott, du bist Júlíus?«
Sie ging auf ihn zu, breitete ihre Arme aus und umarmte ihn lange und innig. Sie schien ihn gar nicht wieder loslassen zu wollen. Sie schmiegte sich so verzweifelt an ihn, als sei er der einzige Halt, den sie im Leben noch hatte. Nach einiger Zeit packte er sie bei den Schultern und löste sich von ihr.
»Sie haben mich gestern freigelassen, und ich bin sofort ins Krankenhaus gegangen«, sagte er. »Elías wird es schaffen. Sie haben mir gesagt, dass sie sogar das Auge retten konnten.«
»Das Auge?«
»Das eine Auge war schlimm zugerichtet, aber sie konnten die Sehkraft retten.«
329
Kristín schaute geraume Zeit auf Elías.
»Wie ist es dir ergangen?«, fragte sie dann.
»Die Frage sollte ich wohl viel eher dir stellen«, erwiderte er.
»Ich weiß nicht, wie sie das gemacht haben. Sie haben mir eine Spritze mit irgendeinem Betäubungsmittel in den Hals gegeben. Sie haben mich in meiner Wohnung abgeliefert, ich bin bei mir zu Hause aufgewacht. Ich habe zuerst gedacht, alles sei nur ein Traum gewesen. Ein Albtraum. Wie ist es dir ergangen?«
»Sie haben mich festgenommen, und ich musste mit ihnen zurück nach Keflavík. Der Mann, der mir diese Kopfverletzung zugefügt hat, fragte mich ständig, wo du seist. Er kapierte nicht, wie du so spurlos verschwinden konntest. Ich habe so getan, als wäre mir das völlig schleierhaft. Als wir vom Gletscher runterkamen, warteten dort vier große Lastwagen und Trucks, um das ganze Zeug abzutransportieren, und ich wurde in einen von ihnen verfrachtet. Ich weiß nicht, wie lange das gedauert hat, aber die ganze Zeit hat dieser Kerl Drohungen ausgestoßen und mich mit einem Messer bedroht.«
»Das war bestimmt Simon.«
»Wie er hieß, weiß ich nicht. Aber unterwegs passierte auf einmal etwas ganz Merkwürdiges. Da kamen auf einmal Soldaten in unseren Wagen reingestürmt, und soviel ich sehen konnte, haben sie sich den Mann geschnappt und aus dem Auto gezerrt. Sie nahmen ihm Papiere ab, die er auf dem Leib trug, und danach habe ich ihn nicht wiedergesehen.«
»Haben sie ihm Papiere abgenommen?«
»Er hatte sie unter der Kleidung versteckt.«
»Irgendjemand hat sie vor seiner Nase in Brand gesteckt, ohne sie auch nur anzusehen. Die Asche flog in alle Winde. Danach haben sie mich in Ruhe gelassen.«
»Wo haben sie dich freigelassen?«
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»Beim Checkpoint an der Basis. Ich habe gesehen, wie der Konvoi drinnen verschwand. Als wir
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