Hotel van Gogh
1.
Hirschig hat Tränen in den Augen, als er früh am Montagmorgen die Galerie am Boulevard Montmartre betritt. Der junge holländische Maler bringt kein Wort heraus. Theo van Gogh hatte ihn in das Nachbarzimmer seines Bruders in der Herberge in Auvers-sur-Oise eingemietet, damit jemand dort ein wachsames Auge auf Vincent hat. Als hätte sich das Unheil nicht schon seit langem angekündigt.
Hastig reißt Theo den Brief von Dr. Gachet auf, den ihm Hirschig mitgebracht hat. In seiner Ungeduld schneidet er sich am Umschlag in den Daumen. Beim Lesen zieht sich eine Blutspur über das Papier. Die Worte verschwimmen ihm vor den Augen. Aber sein Bruder lebt! Und nur darauf kommt es an.
Warum, warum gerade jetzt, inmitten dieses prächtigen Sommers, wo sich das Tal der Oise und die Landschaft um Auvers von ihrer anmutigsten Seite zeigen?
Als ob Hirschig darauf eine Antwort hätte. Als ob Theo die Antwort nicht besser als jeder andere wüsste. Theos eigene Existenz ist in allem auf Vincent zugeschnitten. Ohne Vincent würde auch sein Leben jeden Sinn verlieren.
»Ist mein Bruder bei Bewusstsein?«
Hirschig blickt ihn mit müden Augen an.
»Herr Vincent starrt vor sich hin, er spricht mit niemandem, nicht einmal mit Dr. Gachet. Ich habe die Nacht über bei ihm gesessen.«
Anscheinend steckt die Kugel unterhalb des Herzens, schreibt Gachet. Er muss einen seiner Anfälle erlitten haben, wie sonst ließe sich das erklären? Seine Anfälle erschüttern Vincent wie kleine Beben, denen er dann hilflos ausgeliefert ist.
Zu dieser Zeit befindet sich Theo noch allein in der Niederlassung der Kunsthandlung Goupil. Vor genau einer Woche hatte er endlich die klärende Aussprache mit seinen beiden Vorgesetzten, den Herren Boussod und Valadon. Im Ergebnis besser als er je gehofft hatte. Er würde zum Partner und Mitinhaber aufsteigen und dann wäre es ihm gestattet, in größerem Umfang auch seine eigenen Künstler in der Galerie auszustellen, die Impressionisten, Pissaro, Monet oder Bernard. Und vor allem Vincent. Ums Geld brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen, endlich wäre er in der Lage, die Bedürfnisse seiner Familie mit dem kränkelnden Sohn und die nicht endenden Ansprüche seines Bruders zu befriedigen. Ein solches Gefühl von Leichtigkeit hatte er seit Ewigkeiten nicht verspürt. Und schon ist der Traum vorbei, aus, geplatzt wie eine Seifenblase.
Wenn er sich sofort auf den Weg machen würde, könnte er den Zug um 10 Uhr 25 nach Auvers-sur-Oise noch erreichen. Besser wäre es sicherlich, seine Vorgesetzten über den Grund seiner plötzlichen Abwesenheit persönlich in Kenntnis zu setzen, aber hier geht es um Leben und Tod. Wie lange wird Vincent durchhalten?
Sein großer Bruder! Theo hat es im Pariser Kunsthandel zu einer anerkannten Stellung gebracht, dennoch blickt er zu Vincent trotz all seiner Katastrophen als dem großen Bruder auf. Widerspruchslos erfüllt Theo ihm jeden seiner Wünsche nach Farben und Leinwänden und was er sonst zum Leben braucht. Seit Jahren schleppt er ihn finanziell mit, ein Fass ohne Boden. Als Dank ermahnt ihn Vincent in seinen Briefen, direkt oder versteckt, wie er sein Leben zu gestalten habe, was er für seine Gesundheit tun oder wie er sein Kind richtig aufziehen solle. Aus der Irrenanstalt von St. Rémy übermittelte ihm Vincent Ratschläge zu seinem Tagesablauf in Paris, und Theo, was niemand versteht, nimmt sich jeden seiner Hinweise zu Herzen! Man sollte sich über ihn wundern statt über Vincent.
Gelegentlich hat er seinen Bruder schon als eine gewaltige Belastung empfunden. Aber für Theo stand immer außer Zweifel, dass Vincents Stern eines Tages groß aufgehen würde. Kein Maler der Gegenwart hat sich weiter vorgewagt, in den Farben, den Gefühlen oder der Unmittelbarkeit des Ausdrucks. Der Forscher, der ins Unbekannte vordringt, ist sich der ständig um ihn herum lauernden Gefahr bewusst. Wie oft hat Vincent dieser Gefahr unmittelbar ins Auge geblickt, nur um sich in einem letzten Kraftakt noch einmal zurück zu der schillernd gelbroten Sonne oder in die leuchtend violett funkelnde Nacht zu retten.
Schwitzend sitzt Theo im Zug. Er kann sich an keinen heißeren Sommer erinnern. Ob die Hitze seinen Bruder zum Äußersten getrieben hat? In der Hitze drehen die Leute durch, das ist bekannt.
»Ist Ihnen in den letzten Tagen nichts Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?«
Hirschig, der im Zug neben ihm sitzt, schüttelt stumm den Kopf. Mit seiner Staffelei habe Vincent vor
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