Gletschergrab
zurückgezogen altern, verkümmern und sterben, kinderlos, ohne Familie, ohne alles. Sie sah sich altern in der Stille, die an den langen Sommerabenden über sie herfiel, wenn sie nichts anderes zu tun hatte, als die Papiere aus dem Büro noch einmal durchzugehen. Wenn sie sich gestört fühlte von den Rufen der Kinder auf der Straße. Wenn sie sich abends hinlegte 36
und spürte, wie die Müdigkeit langsam aus ihrem Körper wich.
Manchmal spürte sie richtig, wie es geschah. Es war, als kapsele die Zeit sie in sich ein. All diese langen Tage. All diese langen, erdrückenden Tage, die in Einsamkeit und Stille vergingen.
Manchmal gefielen sie ihr. Manchmal wünschte sie sich, ihr Leben wäre ereignisreicher.
Elías war ihre Familie. Ihre Mutter war tot, und zu ihrem Vater hatte sie kaum noch Verbindung. Verwandte gab es nicht.
Vielleicht hatte der Jurist Recht, wenn er sagte, dass Elías zu viel von ihrer Zeit beanspruchen würde. Selber hatte sie es nie so empfunden.
In diese Gedanken versunken saß sie vor ihrer Kaffeetasse und blätterte in der Zeitung, bis es Zeit war, zur Arbeit zu gehen. Sie verließ das Haus um Viertel vor neun. Bis die Sonne aufging, würde es noch mindestens eine Stunde dauern. Es schneite heftig. Um diese Zeit herrschte dichter Verkehr in der Stadt, und sie schlenderte langsam durch das Schneetreiben. Die Leute hetzten sich alle ab, um so schnell wie möglich zur Arbeit zu kommen, nachdem sie die jüngsten Kinder zum Kindergarten und die älteren in die Schule gebracht hatten. Der Schnee schluckte die Verkehrsgeräusche. Dicke Benzinschwaden vernebelten die Luft in der Stadt. Kristín besaß kein Auto. Sie ging lieber zu Fuß, besonders bei dichtem Verkehr. Die Entfernungen in Reykjavik erschienen ihr nicht weit. Sie hatte in Kalifornien gelebt. Dort konnte man von Entfernungen sprechen. In Reykjavik lebten nur hundertzwanzigtausend Menschen, aber manchmal schienen die Einwohner zu glauben, dass sie in einer Millionenstadt lebten.
Im Büro erhielt sie die Nachricht, dass der Direktor der Handelskammer sie zusammen mit dem persönlichen Referenten des Außenministers erwartete. Was ist denn nun los?, fragte sie sich und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Als die beiden in Kristíns Büro Platz genommen hatten, erzählten sie, der Mann mit den transportablen Gefrieranlagen, 37
Randolf, habe den Direktor der Handelskammer bedroht, sodass sie die Polizei eingeschaltet hatten. Der Mann hatte gedroht, dem Direktor den Hals umzudrehen, und es gab allen Grund, seine Drohungen ernst zu nehmen. Am Vorabend hatte er den Direktor angerufen, er schien nüchtern zu sein, schäumte aber vor Wut über die Ratschläge im Zusammenhang mit seinen Russlandgeschäften.
»Aber was hat das mit mir zu tun?«, fragte Kristín, als die beiden ihr die Geschichte bis ins letzte Detail erzählt hatten.
»Er hat ausdrücklich deinen Namen erwähnt, dieser Irre.
Soweit ich weiß, hat er nicht gerade zufrieden dreingeschaut, als er gestern dieses Büro verließ«, sagte der persönliche Referent des Außenministers, ein junger, parteikonformer Aufsteiger, der sich eine glänzende Karriere auf der politischen Bühne erhoffte.
»Er hat genau wie die letzten Male eine Beleidigung nach der anderen ausgestoßen, deshalb habe ich ihn vor die Tür gesetzt.
Daraufhin schmiss er einen Stuhl an die Wand. Ich habe seine Drohungen überhaupt nicht ernst genommen. Das hat ihn erst recht in Rage gebracht. Was ist das eigentlich für ein Idiot? Er glaubt, dass hier im Ministerium eine Verschwörung gegen ihn im Gange ist.«
»Ich habe mich an die Polizei gewandt«, warf der Direktor ein, ein rundlicher Mann mit einem kleinen, gutmütigen Gesicht.
»Randolf hat sich in den vergangenen Jahren mit allen möglichen Geschäften über Wasser gehalten, aber nichts Illegales getan, glaubt die Polizei. Sie haben ihm einen Besuch abgestattet und sich mit ihm unterhalten. Er hat natürlich Besserung gelobt und beteuert, es habe sich nur um einen einmaligen Ausrutscher gehandelt, aber sie raten uns zur Vorsicht. Die Polizei traut ihm nicht recht über den Weg. Er hat Dinge über dich gesagt, die ich nicht wiederholen möchte. Er scheint viel Geld in Russland verloren zu haben, ist deswegen völlig außer sich und gibt uns die Schuld daran.«
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»Ich bin mit der Sache nicht bis in alle Einzelheiten vertraut«, erwiderte Kristín, »aber wir haben ihm mit Sicherheit keine falschen Informationen gegeben.«
»Genau«, sagte
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