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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Prolog
    Er hat freundliche Augen. Ein warmes Braun mit ockerfarbenen Sprenkeln – winzige Irrlichter unter der Neonröhre der Bar –, darüber schweben wie ein Paar entschlossener kleiner Bumerangs zwei äußerst bewegliche dunkle Brauen. Freundliche Augen erinnern mich an Onkel Rolf und das ist der einzige Grund, warum ich dem Mann erlaube, sich neben mich zu setzen. Die ersten Worte, die er zu mir sagt, sind nämlich nicht sehr originell: »Gestatten Sie …? Sie sehen so traurig aus. Wie Cinderella, allein an der Bar …«
    Er ist einer der vielen Doktoren, die in meiner ersten Arbeitswoche an mir vorbeigeschwirrt sind. Im Gewirr von Namen habe ich seinen sofort verloren. »Gregor Hillmer«, stellt er sich noch einmal vor. »Abteilung Vor- und Frühgeschichte.«
    »Hillmer?«, horche ich auf.
    Sofort tut es mir Leid, ich wollte kein Interesse zeigen. Ich wollte nur unauffällig hier an der provisorischen Bar den Abend absitzen, weil es, wie man mir bedeutet hat, im Historischen Museum auch für Volontäre üblich ist, zum gemeinsamen Sommerfest zu erscheinen. Bei Regen, heute also, findet es drinnen statt, in der großen kühlen Vorhalle zwischen steinernen Kaisern und Gladiatoren, Schlachtrössern mit verlorenen Vorderbeinen und prachtvollen Göttern, denen auf dem Weg durch zwei Jahrtausende das Gesicht abhanden gekommen ist. Sie stehen im Halbschatten der Partyleuchten, würdevoll und still, lassen die Musik über sich ergehen, die merkwürdig hohl von den Wänden prallt, und träumen von längst vergangenen Festen am Nil, am Tiber, am Euphrat. Wir sind weit von zu Hause entfernt.
    Dr. Gregor Hillmer zieht die Augenbrauen in die Höhe, ich werde rot. »Entschuldigung, ich kannte einmal jemanden … aber es ist bestimmt kein Verwandter von Ihnen. Ich habe gehört, dass er in den Mittleren Osten gegangen ist.«
    Ein bedauerndes Hm. »War er Archäologe?«
    »Nein. Stasi-Offizier.«
    Zwischen drei als Ensemble arrangierten Glasvitrinen umtanzt ein einzelnes, nicht mehr ganz junges Mädchen selbstvergessen sein Weinglas. Ich wünsche mich dringend nach Hause, aufs Sofa, auch Kartons gibt es noch auszupacken. »Nun ja«, bringt sich der unerschütterliche Dr. Hillmer wieder in Erinnerung. »Dann hat er ja gewissermaßen auch am Menschen geforscht.«
    Er hebt sein Glas, genauso überrascht wie ich von meinem unterdrückten Kichern, und ich riskiere einen schnellen, zweiten Blick. Schön würde ich ihn nicht nennen – gibt es überhaupt schöne Archäologen? –, aber nun doch sympathisch: mittelgroß, volles dunkles Haar, die Krawatte lässig auf Höhe des zweiten Hemdknopfes geschlungen, mit schätzungsweise Mitte dreißig etwa zehn Jahre älter und selbstbewusster als ich. »Wissen Sie eigentlich, dass Sie das ungewöhnlichste Kleid des Abends tragen? Ja, glauben Sie mir, alle schauen zu Ihnen hinüber.«
    Das ist es ja – unter anderem. Ich hatte keine Ahnung, was man zum Sommerfest eines Museums anzieht. Für mich hatte die Einladung formell geklungen und da mein Kleiderschrank nichts Passendes hergab, habe ich mich in meiner Not an Mamis alte Sachen erinnert, die wir all die Jahre aufgehoben haben. Ein schmales, elfenbeinfarbenes Modell, in dessen grob gewebten Stoff kleine weiße Perlen versenkt sind und in dem ich sie als Kind besonders geliebt habe. Hat gepasst wie angegossen. Und nun muss ich eine zwanglose Party geradezu beschämend overdressed überstehen! Morgen werde ich darüber lachen, tröste ich mich, aber im Augenblick und unter all den fremden neuen Kollegen ist es so ziemlich das Schlimmste, was mir passieren konnte. Als ob ich nicht schon niedergeschlagen genug wäre.
    Doch ich beschließe, mir nichts anmerken zu lassen, und erkläre einigermaßen selbstverständlich: »Meine Mutter hat es für ein Titelblatt von Elle getragen.«
    Er legt den Kopf in den Nacken, zeigt ein makelloses Obergebiss und lacht herzhaft ( Homo sapiens , frühes 21. Jahrhundert, Privatpatient ) und ich ärgere mich noch mehr über mich selbst. Hätte ich mir nicht denken können, dass er es für einen Witz halten wird? Ein Stasi-Offizier und eine Mutter auf dem Titelblatt von Elle ! Gleich wird er eine Bemerkung über »unseren Neuzugang aus dem Osten« machen. Professor Engel hat mich so vorgestellt – jedem Einzelnen, der mir die Hand gab und daraufhin bedeutungsvoll, aber auch ein wenig ratlos »Aah …!« ausrief.
    »Sie scheinen uns überaus ärgerlich zu finden«, meint
Dr. Hillmer

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