Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Katze mit einer halb zerbissenen, noch
zuckenden Maus.
Die Bergrettungsleute, die ihn später bergen mussten,
berichteten, dass sie schon viele schlimm zugerichtete Unfallopfer gesehen
hätten. Dass aber selten einer so furchtbar ausgesehen habe wie dieser Karl
Mannhardt.
Er lag. Der Sturz war vorüber. Er sah nichts. Sah auch keine
Schatten mehr. Alles war verschwunden: Schatten, Schmerzen, sein Körper. Er
schien nicht mehr da zu sein, schien sich aufgelöst zu haben. Nein, nicht
aufgelöst … anders … es war anders … es war, als wäre sein Körper ein Stück
Fleisch in einer fast durchsichtigen Sülze, ausgeschlossen von der Welt – und
zugleich fürsorglich umhüllt, ummantelt, nicht mehr erreichbar.
Doch das Herz, das schlug. Inmitten der Gelatinemasse schlug sein
Herz. Es schlug laut. Nicht dass er das hätte hören können, aber er spürte es.
Die Schallwellen versetzten die Sülze in Schwingung, und inmitten dieser
Schwingung lag er, ein Brocken Fleisch.
Und das Herz schlug.
Ungleichmäßig schlug es. Wie aus dem Rhythmus geraten. Ja, so
schlug es: aus dem Rhythmus. Vor Minuten oder vor einer Viertelstunde oder
einer halben Stunde, da hatte es im Rhythmus geschlagen, seinem Rhythmus. Alles
hatte zueinandergepasst: die Schritte, die Atemzüge und, ohne dass er sich das
bewusst gemacht hatte, die Herzschläge.
Der Herzschlag, in Gelatine eingelegt. Dazu das Rauschen in ihm.
War es das Rauschen seiner Seele, das sich anhörte wie Wind, der als Vorbote
eines großen Unwetters durch bergigen Mischwald streicht?
So lag er, ohne zu wissen, wie lange. Er wusste ja nicht einmal
mehr, wer er war, wie er hieß, woher er kam. Deshalb wohl gingen ihm in der
letzten halben Stunde seines kurzen Lebens auch keine Bilder mehr durch den
Kopf, keine Erinnerungen. Wo es doch so oft hieß, dass einem Sterbenden das
Leben noch einmal wie ein Film ablaufe.
Irgendwann klarte sich die Gelatine auf, die Trübnis ihrer
Beschaffenheit wich. Mit einem Auge konnte er aus seinem weichen Gefängnis
hinaussehen, konnte noch einmal einen Blick tun auf das, was noch übrig war von
seinem Leben. Was er sah, war rätselhaft. Er sah eines seiner Beine nur zwei
Handbreit von seinem Kopf entfernt. Er sah den Fuß, der in sonderbarem Winkel
von diesem Bein abstand. Und er sah, dass dieses Bein zuckte.
Nein, es war keine Täuschung.
Es war sein Bein, das zuckte. Dieses Zucken und sein
unrhythmischer Herzschlag waren alles, was ihm noch geblieben war.
Das Bein zuckte.
Sein Herz schlug, schlug, schlug …
Es setzte aus … und schlug wieder … und setzte wieder aus. Sein
Bein zuckte. Zuckte direkt vor seinem Gesicht. Er konnte es sehen.
Ihn würgte. Gallenbittere Flüssigkeit füllte seine Mundhöhle und
lief heraus und breitete sich rund um Mund und Nase auf dem steinigen Boden
aus.
Das Bein gehörte nicht mehr zu ihm. War nicht umhüllt von
Gelatine. Lag draußen. Und es zuckte. In langen, unregelmäßigen Abständen.
Es bereitete ihm Übelkeit. Er versuchte, das Auge zu schließen,
aber er sah das Zucken durch das Lid hindurch. Es war in ihm.
Wieder würgte sein geschundener Körper Galle hoch. Dabei
verrutschte sein Kopf um ein paar Zentimeter. Davon merkte er nichts. Er merkte
nur, dass sein Bein aus dem Blickfeld verschwand. Nicht ganz, aber immerhin.
Aus dem Augenwinkel nahm er das Zucken weiterhin wahr.
Doch konnte er jetzt auch Himmel sehen und Berge. Gipfel, die
weiß leuchteten. Verbunden durch einen langen Grat aus hellem Fels. Und darüber
das Blau, ein tiefes und schönes Blau.
Sein Bein zuckte. Sein Herz schlug und setzte aus. Er sah die
Berge und den Himmel.
Dann setzte das Herz erneut aus. Und es begann nicht mehr zu
schlagen. Nur das Bein zuckte noch drei-oder viermal.
Aber da war Karl Mannhardt bereits endgültig durchs Tor gegangen.
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