Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Gegenteil: Oft schon hatte er die Nase
gerümpft über den Hundewahn, der insbesondere in den Städten ausgebrochen war
und wie eine Epidemie um sich gegriffen hatte. Hunde als Kinderersatz – und oft
besser behandelt als jene, das war nichts für ihn. Doch hier, bei seinem Leben
in und mit der Natur …
Und ich wäre auch nicht mehr so allein, dachte er. Hätte einen
Begleiter bei meinen Wanderungen und einen Genossen hier im Haus. Ihm fiel die
Geschichte von Robinson Crusoe ein, der auf seiner einsamen Insel zumindest
einen Hund gehabt hatte.
Er schaute in die Stube. Auf dem Fleckerlteppich, der auf dem
gebürsteten Holzboden lag, würde sich ein schwarzer Labrador gut machen.
Vielleicht sollte ich demnächst mal in ein Tierheim fahren, dachte er. Es muss
ja kein Labrador sein, kann auch irgend so ein mit allen Wassern gewaschener
Rasselbinder sein. Hauptsache, er ist ausdauernd genug für die Bergwanderungen.
Oft ist das Alleinsein hier am Berg sehr schön, dachte er.
Bisweilen aber ist es auch belastend.
*
Pastoralpraktikant Jonas Parth schloss den verwirrten alten Mann
namens Manczic in das Abendgebet ein.
Lange hatte er gelesen. Zunächst in einer schmalen Biografie des H. M. Enomiya-Lassalle. Dass dieser
Jesuitenpater zugleich Zen-Lehrer war, hatte ihn verstört und doch auch seine
Neugier geweckt. Aber irgendwie hatte er an diesem Tag nicht die nötige
Konzentration für ein Sachbuch aufgebracht und war übergewechselt zur
Unterhaltungsliteratur. Ein Krimi. »Erbarmen«, von Jussi Adler-Olsen.
Spannend. Grauenvoll und spannend. Trotz des schlechten Gewissens,
das ihn immer dann plagte, wenn er sich von derartig abgründigen Büchern
verführen ließ, war es ihm nicht gelungen, das Buch vor Mitternacht wegzulegen.
Das Nachtgebet fiel kurz aus, und er sprach es schneller als sonst.
Doch er nahm sich die Zeit, für Manczic zu bitten: dass der Herr ihn
einschließe in seine Fürsorge, ihm die Angst und Verzweiflung von den Schultern
nehme, ihn erlöse von Hass und Hoffnungslosigkeit, im Namen des Vaters und des
Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
*
Als Marielle und Pablo kurz nach Mitternacht aus dem »Treibhaus«
kamen, wo sie bei zwei Bieren und zwei sauren Radlern beraten hatten, wie sie
vorgehen wollten, und außerdem überlegt hatten, ob Reuss wohl die Kosten für
dieses »Detektivspiel« tragen würde, hallte aus den Bergen südlich der Stadt
Donner wider. Und als sie ein Stück gegangen waren und der Blick zwischen den
Häuserzeilen einmal freier wurde, sahen sie heftiges Wetterleuchten hinter der
Serles, jenem Berg, der sich im blauen Gewitterschein wundervoll
pyramidenförmig in den Nachthimmel reckte.
»Schauen wir, dass wir heimkommen, bevor es uns einpisst«, sagte
Pablo.
Marielle drückte sich an ihn, er nahm sie in den Arm, und mit großen
Schritten – nicht immer im Gleichschritt – machten sie sich auf den Weg.
*
Als Parth sein Gebet beendet hatte und sich zur Nacht hinlegte,
sah er im Quadrat des Fensters das unheimliche Lichtspiel des Gewitters, das
noch unschlüssig schien, ob es herannahen oder weiterziehen sollte.
Gewitter machten ihm Angst. Das hatte in seiner Kindheit begonnen.
Und es hatte nicht aufgehört bis heute.
Er lag wach und musste unablässig an den Mann denken, den vielleicht
nichts anderes als Hass am Leben erhielt. Und das machte ihm noch mehr Angst.
*
Als Hellwage gerade im Begriff war einzuschlafen, schreckte er
noch einmal hoch. Es war nicht das Donnergrollen, mit dem ein Gewitter ins
Grödnertal hineinzog, das ihn geweckt hatte. Er hatte, im Halbschlaf und schon
auf der Schwelle zu den Träumen, ein Geräusch wahrgenommen, das ihm zu dieser Stunde
fremd war. Ein Geräusch, das nicht hierhergehörte. Es war ihm, als wäre jemand
vor dem Haus, als hätte jemand die Terrasse betreten.
Er machte kein Licht, lag nur ganz still, versuchte über seinen Atem
hinweg jedes kleinste Geräusch draußen zu hören und zu analysieren.
War es ein Mensch? Oder doch ein Tier? Oder hatte er sich alles nur
eingebildet, und es war gar nichts?
Durch das halb geöffnete Fenster hörte er das Konzert der Grillen
und, in einiger Ferne, den Donner. Bisweilen knarzten Bäume im nahen Wald –
diese Geräusche kannte er, sie waren ihm vertraut.
Nichts regte sich mehr vor dem Haus.
Doch die Angst war da, hatte ihn erfasst und drang jetzt durch die
Haut bis in sein Innerstes. Und mit der Angst kam die Erinnerung an den Mann,
den er am Gipfel der Raschötz getroffen hatte.
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