Gletscherkalt - Alpen-Krimi
war auch Ellen. Sie hätte vom Alter her leicht
Marielles Mutter sein können. Sie war dreiundfünfzig, was man ihr aber erst
ansah, wenn man ihr direkt gegenüberstand. Dann nämlich ließen sich die vielen
Fältchen im Gesicht nicht mehr verbergen. Das mittellange Haar trug sie mit
Vorliebe zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengesteckt – von Weitem wirkte es
blond, aus der Nähe sah man die grauen Strähnen. Doch sie verweigerte sich
beharrlich den gut gemeinten Ratschlägen ihrer Friseurin, zu färben oder
wenigstens mit einer leichten Tönung das vordringende Grau zu bekämpfen. Man
muss auch als Frau zu seinem Alter stehen können, war ihre Devise.
Marielle hielt sie nicht nur deswegen für eine starke Frau. Sie
empfand auch große Achtung für sie, weil sie eine Beziehung mit einem ziemlich
schwer behinderten Mann eingegangen war. Für sie selbst war das nicht
vorstellbar. Gut, wenn Pablo einen Unfall erleiden würde und dann vielleicht
gelähmt wäre, würde sie nicht weglaufen. Das hatte sie sich schon überlegt.
Aber sie fragte sich auch, ob sie dann noch Jahre mit ihm aushalten würde. Das
war das eine. Etwas ganz anderes war es schließlich, einen Mann erst
kennenzulernen, wenn er schon behindert war – und sich auf ihn einzulassen, ihn
zu lieben zu beginnen und dabei zu wissen, dass man ihn wahrscheinlich
irgendwann würde pflegen müssen.
Wenn es zum Arschwischen kommt, hatte sich Marielle einmal gedacht,
geht doch jede Liebe in die Binsen.
Ellen schaute auf. »Du fragst, wie das weitergehen soll. Schwer zu
sagen. Die Krankheit kommt in Schüben. Soweit ich weiß, war Pauls Zustand in
den letzten beiden Jahren ziemlich gleichbleibend. Dann kamen die Krämpfe, die
Schmerzen, die schlaflosen Nächte. Das war der Schub. Gut vier Monate ist das
her. Jetzt dauert es hoffentlich wieder Jahre, bis der nächste Schub kommt.«
»Und man kann nichts dagegen tun?«, fragte Marielle.
Ellen schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Medikamente, die die
Zeit zwischen den Schüben verlängern sollen. Massagen und Krankengymnastik.
Doch das bringt alles nur kurzzeitige Linderung. Verbesserung oder gar Heilung
gibt es nicht. Und dann …«
Ellen nahm einen Schluck vom Kaffee.
»Und dann ist Paul ja auch nicht gerade ein Vorzeigepatient. Der und
Krankengymnastik! Ich bin mir nicht mal sicher, ob er seine Tabletten
regelmäßig nimmt. Er ist ein Macho, und die Krankheit ist sein Feind. Er hasst
sie aus tiefster Seele …«
»Was man aber auch verstehen kann«, warf Marielle ein.
»Verstehen schon. Doch es wird ihm jeder Arzt und jeder halbwegs
vernünftige Mensch sagen, dass er die Krankheit annehmen muss, als Teil seiner
Persönlichkeit akzeptieren lernen muss. Tut er das nicht, macht er alles nur
noch schlimmer.«
Sie schwiegen. Ein Gast bezahlte am Tresen und ging hinaus, wobei er
die paar Anwesenden grüßte. Marielle sah ihm nach, sah die festen großen
Schritte, den entschlossenen Gang und die aufrechte Haltung – und es war ihr
zum Heulen zumute.
»Am ärgsten ist, dass die Depressionen immer häufiger kommen«, hörte
sie Ellen weitererzählen. »Dann igelt er sich noch mehr ein, lässt auch mich
kaum noch an sich heran und hört ständig diese Kakofonie, Jazz und Free-Jazz.
Er behauptet, dass es ihm gefällt. Ich sage, davon würde er krank werden, wenn
er es nicht schon wäre.«
»Jetzt übertreibst du aber«, sagte Marielle.
»Natürlich übertreibe ich. Aber das Problem ist, dass mir diese
Musik psychedelisch vorkommt, dass ich glaube, sie macht ihn noch depressiver.
Er verlässt die Wohnung nicht mehr, liegt nur rum, hört Musik, schaut Fernsehen
und verflucht die ganze Welt. Ich habe ihm vorgeschlagen, so ein
Elektrofahrzeug für Handicapler anzuschaffen. Da hat er mich angeschrien und
gesagt, dass er sich nicht für viel Geld auf so ein Gefährt setzen würde. Ich
bin ratlos. Wirklich, ich bin ratlos.«
»Gibt es denn gar nichts, was ihm Freude macht?«
Ellen überlegte. Nach einer Weile, deren Stille nur gestört wurde
durch das Zischen und Fauchen des Milchschäumers an der Kaffeemaschine, sagte
sie: »Was ihm fehlt, sind Morde.«
Marielle wusste sofort, worauf Schwarzenbachers Freundin
hinauswollte. Er war einmal Kriminalbeamter gewesen, noch heute wurden in
Innsbruck Legenden um seinen Instinkt, seinen besonderen Riecher gestrickt.
Dann hatte ihn die Krankheit dienstuntauglich gemacht. Dienstuntauglich, aber
nicht denkunfähig. Er hatte sich zusammen mit dem Rechtsanwalt Dr.
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