Zauber der Vergangenheit
KAPITEL 1
TANTE BATTY
In meiner Familie war schon immer alles ein bisschen anders.
Das begann schon bei meiner Geburt. Wenn ich den Worten meiner Mutter Glauben schenken darf, kam ich mit einem Knall zur Welt und das im wahrsten Sinne des Wortes. Denn an dem Tag, an dem ich geboren wurde, wütete draußen ein unheimliches Unwetter. Meine Tante Clara deutete das damals als göttliches Zeichen und prophezeite meiner Mutter, dass ich ein Kind des Teufels sei und ihr nichts als Ärger bescheren würde.
Wenn man es genau nahm, war also eigentlich sie diejenige mit dem Knall. Aber darüber sprachen wir nicht und wenn doch, dann nannten wir sie nur Tante Batty , was umgangssprachlich so viel bedeutete wie plemplem.
Tante Batty ist die Schwester meiner Mutter. Sie wohnte Gott sei Dank nicht in der Nähe. Leider blieb es uns deshalb aber trotzdem nicht erspart, sie mindestens zweimal im Jahr besuchen zu müssen. Einmal zu Weihnachten und einmal an ihrem Geburtstag, zu dem es jedes Mal Apfel-Nougat-Torte gab, die Tante Batty selbst gebacken hatte. Da sie aber völlig unbegabt war, was das Backen anging, erinnerte der Kuchen immer eher an Braunkohle. Und mal ganz davon abgesehen, dass Apfel-Nougat sowieso schon eine etwas fragliche Kombination für eine Torte darstellte, schmeckte sie auch so.
Die Einzige, die es nicht zu stören schien, war Tante Batty selbst. Sie schaufelte sich jedes Mal ein Stück nach dem anderen auf den Teller und bemerkte dabei, wie fantastisch ihr der Kuchen diesmal wieder gelungen sei. Sogar noch viel besser als beim letzten Mal.
Wie es das Schicksal so wollte, war nun jedoch vor einigen Tagen eine weitere außerplanmäßige Einladung von Tante Batty ins Haus geflattert.
Am Montagmorgen klingelte es an der Tür. Meine Eltern waren bereits unterwegs zur Arbeit. Hatte einer von ihnen etwas vergessen? Ich spielte kurz mit dem Gedanken aufzustehen, doch dann fiel mir ein, dass sie ja beide einen Schlüssel hatten. Ich lugte schläfrig unter meiner Decke hervor. Durch die Jalousie meines Dachfensters krochen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne und malten ein schimmerndes Muster aus tanzenden Lichtpunkten auf Boden und Wände. Ich warf einen Blick auf die Leuchtziffern meines Digitalweckers, der neben mir auf dem Nachttisch stand: Sieben Uhr. Viel zu früh! Es war schließlich der erste Tag der Herbstferien. Ein Tag, an dem mir nichts mehr zuwider war, als in dieser Herrgottsfrühe aufzustehen. Die letzten Schultage waren immerhin mehr als anstrengend gewesen. Eine Prüfung hatte die nächste gejagt. Zum Schluss hatte ich das Gefühl gehabt, mein Kopf müsse von all den Formeln, Daten und Vokabeln buchstäblich überquellen. Da war es doch eigentlich nicht zu viel verlangt, an meinem ersten freien Tag mal ordentlich ausschlafen zu dürfen. Doch da hatte ich mich wohl geirrt. Ich zog mir die Decke über den Kopf und versuchte wieder einzuschlafen. Ich gab mir die größte Mühe das Klingeln einfach zu ignorieren. Wenn ich nicht zur Tür ging, würde der Klingler sicherlich wieder verschwinden. Leider hatte ich mich auch da getäuscht. Er gab nicht so leicht auf. Er probierte es zuerst mit einem doppelten Klingeln, dann mit einem dreifachen und schließlich drückte er den Klingelknopf energisch durch, so dass ein anhaltendes Summen zu hören war. Völlig entnervt befreite ich mich von meiner Bettdecke und stolperte unbeholfen durch mein dunkles Zimmer, wobei ich mit dem rechten Fuß im Ärmel eines T-Shirts hängen blieb, das ich am Tag zuvor achtlos auf den Boden hatte fallen lassen. Energisch schüttelte ich es ab. Ich musste hier unbedingt mal wieder aufräumen. Das Klingeln ging unterdessen unbeirrt weiter.
»Ich komm ja schon«, rief ich leicht gereizt und lief die Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Mit einem genervten Gesichtsausdruck riss ich die Tür auf. Draußen dämmerte es gerade. Der Himmel hatte diesen schönen Blauton angenommen, den sonst nur das Wasser auf den karibischen Inseln hatte. Die Straßenlaternen waren noch nicht ausgegangen und beleuchteten einen Teil unseres Vorgartens und die Person, die vor mir stand. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass es unser Postbote war. Er klingelte sonst nie. Nicht einmal, wenn wir ein Päckchen bekamen. Stattdessen stellte er die Päckchen immer hinter den Buchsbaum, der direkt neben unserer Tür stand, so dass man sie von der Straße aus nicht sehen konnte.
»Oh gut, es ist doch jemand da«, sagte er erleichtert, fuhr sich etwas
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