Dieb meines Herzens
1
Gegen Ende der Regierungszeit Königin Viktorias
Die in tiefes Dämmerlicht getauchte Galerie des Museums war voller merkwürdiger und verstörender Artefakte. Keine dieser Antiquitäten aber war so grausig wie die auf dem kalten Marmorboden in einer Blutlache liegende Frau.
Über der Toten ragte die drohende Gestalt eines Mannes auf. Die Wandleuchten waren schon weit heruntergebrannt, doch das Licht genügte, um die Silhouette seines bis zu den Stiefeln reichenden Mantels erkennen zu lassen. Der hohe Kragen war aufgestellt und verbarg teilweise sein Profil.
Leona Hewitt blieb nur ein Sekundenbruchteil, um die schreckliche Szene zu registrieren. Eben hatte sie die massive steinerne Statue eines geflügelten mythologischen Ungeheuers umrundet. Als Diener verkleidet, das Haar unter einer Männerperücke festgesteckt, bewegte sie sich auf der Suche nach dem Kristall flink, fast im Laufschritt. Ihr Schwung trug sie nun direkt zu dem Mann, der sich über den Leichnam der Frau beugte.
Als er sich zu ihr umdrehte, schwang sein Mantel wie ein großer schwarzer Flügel aus.
Verzweifelt versuchte sie, die Richtung zu ändern, doch dazu war es zu spät.
Er packte sie so mühelos, als wäre sie eine Geliebte, die sich ihm mit Absicht in die Arme warf; eine Geliebte, die er voller Vorfreude erwartet hatte.
»Still«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Keine Bewegung.«
Es war nicht der Befehl, der sie reglos verharren ließ, sondern der Ton seiner Stimme. Energie durchpulste jedes Wort und überflutete ihre Sinne wie eine gewaltige Meereswoge. Ihr war, als hätte ein irrer Arzt ihr eine exotische Droge in die Venen injiziert, ein Gemisch, das sie lähmte. Doch die Furcht, die sie eben noch verspürt hatte, war wie von Zauberhand von ihr gewichen.
»Mund halten, und bis auf Weiteres keine Bewegung.«
Die Stimme des Mannes erschien ihr als Furcht einflößende, sonderbar erregende Naturgewalt, die sie in eine fremde Dimension entführte. Trunkenes Gelächter und Musik, die von der zwei Etagen unter ihnen stattfindenden Party gedämpft heraufklangen, verwehten in der Nacht. Sie befand sich nun an einem anderen Ort, in einem Reich, wo nur diese Stimme zählte.
Die Stimme. Sie hatte sie in einen bizarren Traumzustand gezwungen. Sie wusste alles über Träume.
Erkenntnis durchzuckte sie und riss sie aus der Trance. Der Mann machte sich eine paranormale Kraft zunutze, um sie zu beherrschen. Warum stand sie so reglos und passiv da? Sie sollte um ihr Leben kämpfen. Und sie würde kämpfen.
Sie aktivierte ihre Willenskraft und ihre Sinne wie immer, wenn sie Energie durch einen Traumkristall kanalisierte. Das schwankende Gefühl der Unwirklichkeit zerbarst in Millionen glitzernder Splitter. Plötzlich war sie frei von dem sonderbaren Bann, doch sie war noch nicht von dem Mann befreit, der sie an sich drückte. Es fühlte sich an, als wäre sie an einen Fels gefesselt.
»Verdammt«, flüsterte er. »Du bist eine Frau.«
Die Wirklichkeit mitsamt der Angst und den gedämpften
Geräuschen der Party kehrten bestürzend rasch wieder. Sie fing an, sich heftig zur Wehr zu setzen. Die Perücke rutschte ihr über ein Auge und raubte ihr teilweise die Sicht.
Der Mann drückte ihr seine Hand auf den Mund und festigte den Griff, mit dem er ihren Körper hielt. »Ich weiß nicht, wie Sie aus der Trance gleiten konnten, doch verhalten Sie sich am besten still, wenn Sie die Nacht überleben wollen.«
Seine Stimme klang nun anders. Noch immer von einer tiefen bezwingenden Note durchdrungen, widerhallten seine Worte nicht mehr von der elektrisierenden Energie, die sie für kurze Zeit in eine reglose Statue verwandelt hatte. Offenbar hatte er es aufgegeben, sie mit Hilfe seiner mentalen Kräfte zu beherrschen. Stattdessen bediente er sich einer althergebrachten Methode und nutzte die überlegene körperliche Kraft, mit der die Natur das männliche Geschlecht ausstattet.
Als sie gegen sein Schienbein trat, glitt ihr Schuh an einer glitschigen Substanz ab. O Gott, Blut! Sie verfehlte ihr Ziel, doch ihre Zehe stieß gegen einen kleinen Gegenstand auf dem Boden neben der Toten. Sie hörte das Ding leicht über die Steinfliesen schlittern.
»Verdammt, jemand ist auf der Treppe«, raunte er ihr ins Ohr. »Hören Sie die Schritte? Entdeckt man uns, kommt hier keiner von uns lebend hinaus.«
Die grimmige Gewissheit seiner Worte machte sie plötzlich unsicher.
»Ich habe die Frau nicht getötet«, setzte er ganz leise hinzu, als könne er ihre
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