Gletscherkalt - Alpen-Krimi
schaute in die Ferne. Nicht zu den
spektakulären Dolomitenbergen, sondern hinüber nach Westen, wo die Region von
Ritten und Kassianspitze mit sanften Wiesen und eingestreuten Weilern beinahe
so etwas wie Lieblichkeit vermittelte.
Hellwage folgte seinem Blick. Er sehnte sich nach Hause, in seinen
zum Ferienhaus umgebauten Stadel. Da wäre er jetzt gerne im Wohnraum gesessen,
Blick zum Ritten, ein Glas Wein oder eine Tasse Kaffee und dazu die
Goldberg-Variationen in Glenn Goulds langsamer Version von 1981. Oder, beinahe
genauso bezaubernd, in der swingenden Bearbeitung von Jacques Loussier. Gern
wäre er jetzt allein gewesen, in seinem Haus, die Fenster geschlossen, die Tür
verriegelt, unerreichbar, unberührbar, unverletzlich.
»Der Tod«, sagte der Mann wieder. Er sah Hellwage an. »Sie haben
Angst wegen Sterben. Stimmt?«
*
Als sie Schwarzenbacher wieder zum Wagen hinaufschleppten,
klingelte dessen Mobiltelefon in der Jackentasche.
»Setzt mich hier ab«, sagte er.
Marielle und Pablo zögerten.
»Jetzt stellt euch nicht so an. Ich kugle schon nicht den Berg
runter.«
Sie setzten ihn ab, hockten sich daneben und ließen ihn
telefonieren. Nach wenigen Augenblicken konnten sich beide denken, wer ihn
angerufen hatte. In Schwarzenbachers Gesicht sahen sie zunächst angespannten
Ernst, dann lösten sich die Züge, und ein Lächeln legte seine Augenwinkel in
unzählige kleine Falten.
»Hosp«, sagte Schwarzenbacher, als er das Handy abgeschaltet und
wieder in die Tasche geschoben hatte.
»Und?«, fragte Pablo.
»Erzähl ich euch auf der Heimfahrt«, sagte Schwarzenbacher.
Logisch, dachte Marielle. So kennen wir ihn ja mittlerweile – sobald
ihn etwas ernsthaft bewegt, braucht er erst einmal Zeit für sich und seine
Gedanken. Kann man verstehen. Nervt aber trotzdem.
Zusammen mit Pablo zerrte sie Schwarzenbacher auf seine hilflosen
Beine, und gemeinsam schleppten und schleiften sie ihn zur Straße hinauf.
Marielle hielt sie für ein gutes Team: den genialen Ermittler
Schwarzenbacher, Rechtsanwalt Reuss, Pablo und sich selbst. Aber nun, in diesen
Minuten, da sie Schwarzenbacher den Hang hinaufwuchteten, kam ihr das alles nur
erbärmlich vor.
Wenn uns wer sieht, dachte sie, dann denkt der doch, wir Jungen
hätten unseren behinderten Vater zum Scheißen getragen.
Irgendwie war es ihr peinlich.
Und irgendwie war sie wütend, weil Schwarzenbacher sich in Schweigen
hüllte.
»Schau nicht so bitter«, sagte Schwarzenbacher. »Für mich ist es
auch nicht besonders lustig, von euch herumgetragen zu werden, das kannst du
mir glauben.«
Marielle blieb stumm.
3
Jonas Parth kannte den Mann, der im Anschluss an die Morgenmesse
eine Kerze anzündete und noch minutenlang in stillem Gebet verharrte. Seit drei
Jahren war Parth als Pastoralpraktikant in Wilten, und in den drei Jahren hatte
er ihn dreißig Mal oder öfter in der Kirche gesehen, meist betend am Kerzenfach
in der Seitenkapelle.
Und seine Kollegen vom Stift kannten ihn auch. Und der Geistliche
Rat Müller, der vor nicht allzu langer Zeit in den Ruhestand eingetreten war
und nur mehr gelegentlich Messen las, hatte sich erinnern können, dass dies
schon über zwei Jahrzehnte so ging.
Man wusste natürlich, wer der Mann war. Innsbruck war immer noch ein
Dorf, wenn man die Zwiebelhäute abpellte, wenn man nur jene Menschen meinte,
die wirklich hier lebten. Viele kamen ja nur zur Arbeit hierher und fuhren
abends wieder raus. Andere hatten sich in der Altstadt teure Eigentumswohnungen
gekauft oder wohnten mit Blick über die Dächer der Stadt droben in Hötting.
Aber Anteil am Leben der Stadt nahmen die meisten davon ja nicht – wohnten in
ihren vier, acht, sechzehn, hundert Wänden und gestalteten ihre Umgebung dabei
so austauschbar wie die Läden in der Rathausgalerie.
Parth beobachte den Mann, wie er es oft schon getan hatte.
Früher noch hatte er sich gewundert, dass dieser fromme und vom Schicksal so
gebeutelte Mann nie zur Beichte kam, immer nur zum Gebet, bisweilen zu einem
Gottesdienst. Oft schon hatte er überlegt, ihn einmal anzusprechen. Doch es
war, als hätte ihn noch jedes Mal eine besondere Aura, die diesen stillen, in
sich gekehrten Beter zu umgeben schien, davon abgehalten.
An diesem Tag aber gelang es ihm, die unsichtbare Barriere zu
durchbrechen. Langsamen Schrittes ging er von hinten auf den Mann zu. In der
beinahen Lautlosigkeit seines Ganges – lediglich die Sohle seines rechten
Schuhs knarzte ein wenig – lag auch der Ausdruck
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