Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Fliegen
hab ich nichts am Hut, rein gar nichts. Ich kann mich nicht mal dran gewöhnen,
beim Klettern ins Seil zu fallen. Und mir reicht noch das Erlebnis im Wilden
Kaiser, in der Südostwand der Fleischbank …«
Damals hatte sie einen schlechten Tag erwischt. Sie war die
schwierigste Seillänge vorgestiegen. Bald hatte sie bemerken müssen, dass bei
ihr nichts richtig zusammenpasste – sie schaffte es nicht, sich voll zu
konzentrieren, sie spürte die mentalen Nachwirkungen ihres traumatischen
Erlebnisses in der Schattenwand, und da war es nur logisch, dass sie
verkrampfte. Und wenn man beim Klettern verkrampft, dann geht einem die Kraft
aus wie einem Fahrradschlauch die Luft, wenn man in einen Nagel gefahren ist.
»Alles, nur nicht fliegen«, fügte sie hinzu.
Pablo setzte sich neben Schwarzenbacher, Marielle ging hinter ihm in
die Hocke. Eine Sekunden schwiegen sie alle drei, lauschten dem Verkehrslärm
von der Autobahn und den auf der nahen Bundesstraße vorbeifahrenden Autos. Ein
Vogel zwitscherte im Geäst hoch über ihnen.
»Hört ihr das?«, fragte Schwarzenbacher. Er zeigte nach oben. Der
Vogel verstummte. Marielle und Pablo nickten.
»Wir müssen alles sehen und hören und riechen«, sagte
Schwarzenbacher. »Alles wahrnehmen, was wir mit unseren Sinnen erfassen können.
Nicht nur die üblichen Indizien, die von den Spurensicherern eingetütet werden.
Sondern alles.«
Was meint er damit: alles?, dachte Marielle. Gibt es etwas, was die
Spurensucher nicht finden würden?
Es war, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Jeder Tatort birgt Geheimnisse. Mir ist es früher des Öfteren
passiert, dass ich immer wieder zu einem Tatort gegangen bin, und erst dann,
nach längerer Zeit, hat er sein Geheimnis preisgegeben.«
»Aber die Leute von der Spurensicherung, die …«
»Die machen ihren Job«, sagte er. »Und sie machen ihn gut. Die
meisten von ihnen sind wie Computer: Sie sammeln alle Fakten, stellen sicher,
katalogisieren, analysieren – und abends gehen sie nach Hause, waschen sich das
Blut von den Händen, schütteln sich wie die Pudel und löschen die düsteren
Bilder aus ihren Gedächtnissen und ihren Seelen. Es ist kein schöner Job. Sie
machen ihn gut, und ich möchte nicht mit ihnen tauschen. Ihr Vorteil allerdings
ist, dass sie die meisten Geschehnisse nicht so weit an sich heranlassen müssen
wie ein Ermittler.«
Er schaute hinauf zur Brücke, als gäbe es dort Spannendes zu sehen.
Dann blickte er zu Marielle.
»Als Ermittler musst du so tun, als wärst du das Opfer, als hättest
du jede Qual erlitten. Und genauso musst du der Täter sein, musst dir
vorstellen, wie du als Mörder vorgegangen bist. Die perversesten Tötungen musst
du zu deinen machen, nur so lernst du, den Mörder zu begreifen. Du musst seine
Beweggründe verstehen lernen, dann kannst du ihn vielleicht auch erkennen, wenn
er dir über den Weg läuft.«
»Das klingt aber ziemlich mystisch«, sagte Pablo. »Ich war
eigentlich der Meinung, dass die meisten Aufklärungen auf Indizien beruhen.
Täusche ich mich da?«
Schwarzenbacher lächelte und sah wieder zur Brücke empor.
»Wir werden ja sehen«, sagte er. »Wir werden sehen.«
*
Hellwage war überrascht und verwirrt, als er beim Aufstieg über
den grobblockigen Gipfelaufbau von einem Berggeher eingeholt wurde. Mehrmals
hatte er das Gefühl gehabt, an diesem einsamen Weg nicht allein zu sein, doch
wirkliche Anzeichen dafür hatte er nicht entdecken können. Es war immer nur so
ein Gefühl gewesen.
Wo kommt der denn jetzt her?, dachte er.
Er wich dem Mann, der mit großen Schritten und kleinem Rucksack
unterwegs war, am schmalen Weg aus, grüßte kurz und wurde ebenso knapp
zurückgegrüßt. Er sah ihm noch eine Weile nach, wie er kraftvoll den Berg
hinaufstürmte.
Der Mann war das genaue Gegenteil von Hellwage; ein schneller Geher,
fast schon Läufer – er hingegen ein gleichmäßig ruhiger Wanderer. Der Mann
athletisch, groß, stark, etwa Anfang, Mitte vierzig. Er hingegen in die Jahre
gekommen, die Stille suchend, die Muße genießend.
Der ist wahrscheinlich in der halben Zeit hier raufgerannt, dachte
er bei sich.
Er blieb noch eine Weile stehen, sah hinab ins unten eng werdende,
dicht waldige Tal, machte sich dann wieder auf den Weg. Sein Gang war etwas
schwer, und es dauerte einige Minuten, ehe er wieder seinen guten Rhythmus
gefunden hatte. Nach etwas mehr als einer Viertelstunde erreichte er den
Gipfel.
Die Aussicht in die Dolomitenlandschaft war
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