Gletscherkalt - Alpen-Krimi
Schneedecke. Doch das Weiß störte sie dennoch: Es war beinahe das gleiche
Weiß wie das der Ärztekittel in der Uniklinik, wo sie damals über Wochen
behandelt und wieder hergestellt worden war. Die Schäden an ihrem Körper waren
relativ schnell geheilt: die Erfrierungserscheinungen, die Unterkühlung, die
Abschürfungen, die Platzwunden an den Lippen, die von seinen Schlägen
herrührten … Langwieriger war es gewesen, psychisch wieder Halt zu gewinnen,
das Erlebte und Erlittene zu verdauen, zu verarbeiten.
Ich habe es nie verarbeitet, dachte Marielle. Habe es verdrängt.
Verdrängt und verdrängt. Schwarzenbacher kam ins Krankenhaus, ich hab nicht
gewusst, wer er war, es hat gedauert, bis ich ihm ein bisschen Vertrauen
geschenkt habe. Wenn er mich gefragt hätte, was wirklich geschehen ist, dann
hätte ich ihm nicht vertraut. Aber er hat mich nicht gefragt. Nie. Es ist mein
Geheimnis geblieben. Quatsch! Kein Geheimnis – einfach meine Angelegenheit, die
niemanden etwas angeht, nur mich.
An noch etwas erinnerte sie sich: Dass Schwarzenbacher sie damals
mehrfach aufgefordert hatte, jedes Detail in sich noch einmal wachzurufen, das
ganze Drama innerlich noch einmal nachzuvollziehen, weil sie sonst nie Ruhe
bekommen würde …
»Hey! Marielle! Spinnst du? Wo läufst du hin?«
Die Schreie der anderen holten sie aus der Vergangenheit ins Jetzt.
»Schläfst du im Gehen, oder was ist los?«
Marielle war stehen geblieben, die anderen am Seil ebenfalls. Nun
sah sie auch, was sie schon längst hätte sehen müssen: Dass sie auf ein Gewirr
von Spalten zugesteuert war, die sich als kaum wahrnehmbare Linien unter einer
wahrscheinlich nicht mehr sehr dicken und trügerischen Schneedecke
abzeichneten. Sie wusste, wenn die anderen nicht aufgepasst hätten, dann wäre
sie da hirnlos und ahnungslos hineinmarschiert. Und es gab keinen Zweifel, dass
die Schneebrücken unter ihr zusammen gebrochen wären. Sie hasste
Gletscherspalten. Und sie verfluchte sich selbst.
Doch ein Gutes hatte dieser Effekt: Er hatte eine derartige
Adrenalin-Ausschüttung mit sich gebracht, dass Marielle jetzt völlig fokussiert
war auf ihre Aufgabe als Seilerste. Die bösen Gedanken waren weg. Sie selbst
war jetzt ganz da. Und sie hätte wahrscheinlich noch sechs oder sieben Stunden
so gehen können, ohne die Konzentration noch einmal zu verlieren.
Nach gut zwei Stunden erreichten sie die Hütte. Wohlbehalten.
Und keiner erwähnte ihre Fehlleistung auch nur noch mit einem Wort.
Sie alle fanden Platz auf der großen Terrasse, die voll in der Sonne
lag und wo reges Leben herrschte: Jede Menge Leute schienen die Hütte zum
Ausflugsziel erkoren zu haben, sie waren heraufgewandert und ließen sich nun
das Bier und den Spezi und das Essen schmecken und hielten die eingecremten
Gesichter in das Sonnenlicht, das nicht nur vom Himmel kam, sondern auch noch
von den Gletschern reflektiert wurde.
Nach den Stunden in der hochalpinen Einsamkeit war dieser Trubel
befremdlich, fand Marielle. Doch sie war auch froh. Inmitten der vielen
Menschen, wo ständig geplappert, geschwärmt, geplärrt und gelacht wurde, wo
kunterbuntes Leben herrschte, verlor der Tod viel von seiner besitzergreifenden
Art.
Nervig war nur, dass man jetzt lange anstehen musste, um an sein
Getränk zu kommen. Marielle wartete in der Reihe, um für Pablo ein saures
Radler und für sich eine Apfelschorle zu ergattern. Sie hatte gewaltigen Durst
und beneidete jeden, der mit gefüllten Gläsern vom Selbstbedienungstresen
zurückkam.
Als sie endlich an der Reihe war und darauf wartete, dass die
Getränke eingeschenkt wurden, ereignete sich neben ihr etwas so Belangloses,
dass sie nicht hätte sagen können, warum sich ihre Aufmerksamkeit ganz darauf
einließ. Es war einfach so.
Zwei Bergsteiger meldeten sich fürs Nachtquartier im Matratzenlager
an: »Ja, wir haben angerufen. Reif und Gebhardt sind die Namen, aus Rosenheim …« Sie legten ihre scheckkartengroßen Alpenvereinsausweise vor, bezahlten die
Nächtigungsgebühr und bekamen dafür zwei farbige Streifen, die ungefähr
aussahen wie Kino-Eintrittskarten, nur doppelt so lange. Das war alles. Und
Marielle hatte dabei zugesehen und zugehört, als wäre ihr ein altvertrauter
Vorgang erstmals ganz bewusst geworden. So wie man sich die Füße wäscht und das
ganz unbewusst macht: an der Ferse, der Sohle, am Rist, vor allem zwischen den
Zehen. Schnell und doch lang genug, dass die Seife den Gestank auffrisst und
das Wasser, nach Lust und
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