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Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Titel: Gletscherkalt - Alpen-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan König
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gleichsam
seinen Wohnraum, dachte an die Holzbalken an der Decke und dass ihn jemand mit
einem starken Strick daran gebunden haben musste. Er stellte sich vor, wie er
da hing: Ein Seil, oben über den Balken geführt und fest verknotet, unten mit
solcher Gewalt um seine Handgelenke geschnürt, dass er seine bloßen Knochen zu
spüren glaubte.
    Ja, ich hänge an einem der Balken. Es ist mein Haus. Es klingt wie
mein Haus. Die Stille klingt, wie sie immer geklungen hat.
    Er horchte darauf, ob eventuell ein Fenster oder die Tür geöffnet
war. Ob von draußen Geräusche hereindrangen, ein fernes Bellen vielleicht oder
das Geläut der Kirchenglocken von Lajen oder auch nur Vogelgezwitscher, wie es
ihm vertraut war.
    Die Beine, das konnte er erspüren, waren ebenfalls gefesselt. Mit
den Knien erreichte er den Boden nicht, und die Füße waren wahrscheinlich an
die schwere Kommode gebunden. Das erklärte, warum er nur an den Armen hing und
seine Rückenmuskulatur gespannt war bis zum Zerreißen.
    Er war in seinem Haus, das glaubte er mit ziemlicher Sicherheit zu
wissen. Es half ihm nicht weiter, aber es tat ihm gut. Wie es ihm überhaupt
guttat, die Realität wie mit kleinen Puzzleteilen zusammenzusetzen und damit
zumindest für Minuten den Eindruck zu gewinnen, wieder einen Teil seines
gepeinigten Daseins in den Griff zu bekommen.
    Mein Kopf denkt, dachte er.
    Dieses Denken hatte ihm ermöglicht, die räumlichen Umstände zu
analysierten. Für einige Augenblicke waren die Schmerzen nicht mehr das
Bedeutendste in seinem Leben.
    Doch dieses Denken eröffnete ihm auch eine schockierende Gewissheit:
Es ging nicht um Einbruch oder Raub – so, wie er gefesselt war, musste es sich
um eine Bestrafung handeln. Eine ganz und gar sadistische Bestrafung für etwas
Schlimmes, das er in seinem Leben getan hatte.
    Was? Um Gottes willen, für was werde ich bestraft?
    Sein Leben raste in abgehackten, immer wieder stockenden, dann
weiter getriebenen Bildern durch seinen Kopf. Einmal im Schnelldurchlauf von
den Kindheitstagen über Jugendjahre, Beruf, Beziehungen, Familie bis hin zum
Alleinsein im vorgerückteren Alter – und wieder zurück und wieder von vorn, und
dabei wurde offensichtlich in jedem Durchgang das Unerhebliche aussortiert, bis
nur mehr Maßgebliches übrig blieb. Plötzlich waren nur mehr drei Kirschen da.
    Kirschen, ja genau.
    Kirschen als Symbole am einarmigen Banditen.
    Erinnerung: Eine Reise durch Amerikas Westen. Abends im Hotel in
Reno den Spielsalon aufgesucht. Eigentlich immer ein vehementer Gegner des
Glückspiels gewesen. Journalistische Neugier hatte er als Grund ins Feld
geführt. Musste man nicht alles einmal erlebt haben?
    Er erinnerte sich ganz genau an jedes Detail – und wunderte sich im
selben Moment, wie ihm das in dieser prekären Lage gelingen konnte. Er sah das
Kleingeld, die sechs Dollar und siebzig Cent, nicht nur vor sich, er fühlte die
Münzen geradezu in der Handfläche – leicht und rund und angenehm kühl. Fünf
Dollar tauschte er gegen Coins ein, und binnen einer oder zwei Minuten hatte
der Automat die Spielmünzen aufgefressen und nie etwas anderes abgeliefert als
einen Obstsalat: Ananas, Kirsche, Orange. Zwei Orangen, eine Kirsche. Oder zwei
Ananas und eine Orange und die farbige Leuchtschrift »Enter coin«.
    Er hätte damals nicht sagen können, was ihn, den
Glücksspiel-Verächter, dann doch veranlasst hatte, auch die paar übrigen Münzen
gegen Coins einzutauschen (mehr als dieses Münzgeld hatte er sich von
vornherein untersagt). Er war zurückgegangen zu »seinem« Automaten, den niemand
anders in der Zwischenzeit in Besitz genommen hatte, und er war bereit gewesen,
auch noch die letzten Cents zu verlieren, um bestätigt zu wissen, dass alles
nur Humbug war und niemand Gewinne machte als einzig das Kasino.
    Ein Coin war fünfundzwanzig Cent wert gewesen. Er hatte das bunte
Spielgeld – gelb, ja, der Chip war gelb gewesen – in den dafür vorgesehenen
Schlitz geworfen und hatte, ohne die Stopp-Taste zu betätigen, einfach
abgewartet, was passieren würde.
    Drei Kirschen!
    Natürlich hatte er die Gewinnauszahlung gedrückt, überrascht und
erfreut zugleich. Und dann waren mindestens eine halbe Minute lang Coins aus
dem einarmigen Banditen gerattert, hatten das vorgesehene Fach überfüllt, waren
auf den Teppichboden gefallen. Ein farbiger Security-Mann, groß und breit wie
ein Schwergewichtsweltmeister, hatte ihm Plastikboxen gebracht und war ihm
behilflich gewesen, seine ganzen

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