Gletscherkalt - Alpen-Krimi
fand.
*
Als Hellwage zu sich kam, zurückkehrte aus seiner neuerlichen
Ohnmacht, war die Nacht verschwunden. Er sah Hell, sah Gelb, sah Licht. Er
stöhnte vor Schmerzen. Noch immer hing er am Balken von der Decke, noch immer
waren ihm die Füße gebunden. Doch die Augenbinde war weg, er konnte sehen.
Er war in seinem Haus. Alles war an seinem Platz. Er sah eine Ecke
vom Tisch und das Fenster und unter sich den Teppich. Die Tür sah er auch, sie
war zu, und der Schlüssel steckte von innen.
Hellwage nahm den Gestank war, der sein Haus erfüllte, Kot und Urin,
und er erinnerte sich vage, dass er selbst diesen Gestank verursacht haben
musste. Die Stehlampe war angeschaltet, und sie erfüllte den Raum mit ihrem
warmen gelb-orangen Licht.
Er versuchte den Kopf ein bisschen weiter zu drehen, was allerdings
nur unter größten Anstrengungen gelang. Er glaubte, seine Schultern, Oberarme
und der Nacken wären mit langen Schrauben durchbohrt und irgendwo fixiert. Als
er den Kopf so weit gedreht hatte, dass er mehr erfassen konnte, sah er eine
südtirolerische, bäuerliche Idylle. Auf dem Tisch lag ein Brett mit einem Stück
Speck, daneben eines seiner scharfen Messer. Die Hälfte eines Schüttelbrotes,
halbrund und wie pockennarbig, lag inmitten von vielen Bröseln. Eine richtige
Jause. Nur dass kein Glas mit Rotwein dabeistand, sondern eine geöffnete
Bierflasche.
Nicht von mir, dachte Hellwage. Das ist nicht von mir.
Und er hörte, was ihm bisher entgangen war, Musik. Klassische Musik.
Das meiste von dem, was sich in den letzten Stunden ereignet haben
musste, von da an, da er draußen auf der Wiese das Bewusstsein verloren hatte,
war ihm entrückt, unfassbar, nicht erklärlich. Ihm fehlten Zeiten des
Bewusstseins, und ihm fehlten Erinnerungen. Doch dass dies Robert Schumanns 3. Sinfonie
war, die »Rheinische«, dirigiert 1960 vom großen George Szell, das erkannte er
auf Anhieb.
Erster Satz, dachte er, und er sah das Cover der CD geradezu vor sich.
Szell mit dem Cleveland Orchestra, dachte er.
Doch dann endete die Musik. Abrupt. Jemand musste die Stopp-Taste am CD -Player gedrückt haben.
Hellwage konnte nicht dorthin sehen. Er wusste nicht, wer da bei ihm
war. Er wusste nur, dass er lieber noch mehr von der Musik gehört hätte.
6
Für Ellen waren Pauls Stimmungsschwankungen ein echtes Phänomen.
Es war erst ein paar Tage her, dass sie das Gefühl gehabt hatte,
Schwarzenbacher würde sich ohne Zögern eine Kugel durch den Kopf jagen – wenn
er noch im Besitz seiner Dienstwaffe gewesen wäre. Seine Depressionen waren für
sie so nachvollziehbar wie schwer zu ertragen.
Dabei konnte er selbst in diesen düsteren Phasen bisweilen
ausgesprochen amüsant sein. Auf eine sarkastische Art, das musste sie zugeben.
Doch sie mochte diesen gallenbitteren Humor, der das Leben und den Tod
gleichermaßen verlachte.
Diese urkomischen Momente sind immer seltener geworden zuletzt,
dachte sie. Und für mich war es mit jedem Tag schwieriger, ihn zu ertragen. Ich
mag ihn. Ja, ich mag ihn. Ob ich ihn liebe? Mein Gott, was heißt Liebe. Wann
ist es Verliebtheit? Wann Liebe? Wann nichts mehr von alledem? Ich mag ihn.
Mag seine Stimme. Seinen Scharfsinn. Seinen Humor, auch wenn der
selten zutage tritt. Und ich mag die Wärme und Zärtlichkeit, die er mir oft
gibt.
Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich bei einem kranken und
behinderten Menschen so geborgen fühlen kann. Oft ist er viel stärker als ich.
Dann aber auch wieder nicht. Manchmal sind wir wie eine Wippe auf dem
Kinderspielplatz: Mal geht es links rauf und rechts runter, dann wieder
umgekehrt.
Wenn seine Depressionen nicht wären, hätten wir ein schönes Leben
miteinander. Mir tut er gut. Ein Macho ist er, aber das mag ich ja. Er ist ja
auch keiner von der schwanzwedelnden Art. Ginge ja auch schlecht …
»Ellen!«
Schon der Klang dieses einen Wortes unterstrich die gute Laune des
Paul Schwarzenbacher.
»Ellen, du könntest mir wieder einmal einen Gefallen tun. Würdest du
das?«
»Kommt darauf an, wohin ich dich diesmal schieben soll. Möchte nur
am Schluss nicht so ein Muskelweib wie diese Hammerwerferinnen und
Kugelstoßerinnen sein …«
»Findest du das etwa unsexy?«
Ellen setzte sich mit einer Pobacke zu ihm auf die Couch.
»Red keinen Unsinn«, sagte sie. »Sag mir lieber, was ich machen
soll.«
Sie drehte den Kopf zu ihm und küsste ihn flüchtig auf den Mund.
»Ich mag nur nicht, wenn du mich allein losschickst, das weißt du. Wenn du
jedoch dabei
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