Glutnester
aufgebaut hatte, endgültig zu vernichten.
Elsa steigt aus dem Wagen und rennt die Treppen zum Verhörzimmer hinauf. Oben angekommen, dringt sie in den Raum ein, ohne Degenwald vorzuwarnen.
»Kann ich Sie kurz sprechen?«, wirft sie ihrem Kollegen, völlig außer Atem, an den Kopf.
»Das geht jetzt nicht«, entgegnet Degenwald streng. Mit einem warnenden Blick, der seine Worte unterstreicht, funkelt er Elsa an. Niemand schätzt es, während eines Verhörs unterbrochen zu werden, weiß sie. Mitunter konnte dadurch das gesamte, mühsam aufgebaute Gerüst zum Einsturz gebracht werden. Ohne guten Grund unterbrach man keinen Kollegen, der einen mutmaßlichen Täter vor sich sitzen hatte und ihm endlich etwas entlocken wollte. Doch sie hatte einen Grund. Einen guten sogar. Leider.
»Jetzt geh scho, Karl. ’s werd Zeit, dass i mi von deiner bleden Fragerei erhol«, wirft Hubert Kratzer Degenwald an den Kopf. Der Blick, den er Elsa vorbehält, könnte nicht kälter sein. Er bohrt sich in ihre Stirn und wandert dann langsam ihr ganzes Gesicht ab. Ein Blick wie ein scharfkantiger Eisklotz, der ihr über die Haut ritzt.
Elsa spürt, wie ihr noch unangenehmer zumute wird. Sie erinnert sich an ihren ersten Fall in Köln. An die Zweifel und das Gefühl innerer Beklemmung, als sie die Ermittlungen aufnahm. Die ständige Frage, ob sie den Schuldigen finden und die Unschuldigen genügend schützen konnte. Die Grübelei, ob sie dem Beruf, den sie anstrebte, überhaupt gewachsen war. Und dann die wichtigste Frage von allen: Was war Schuld? Und durfte sie jemanden mit aller Konsequenz als Schuldigen ins Auge fassen, wenn auch nur der kleinste Zweifel an dessen Unschuld bestand? Was war mit ihr und all diesen Fragen geschehen? Wo stand sie heute? Was hatte sie Hubert Kratzer womöglich angetan? Und wenn er unschuldig war, wie sollte sie das je wiedergutmachen? Elsa fühlt, wie ihr Schweißperlen am ganzen Körper wachsen. Sie schaut Hubert Kratzer an, kann sich nicht von ihm lösen und sagt dann einen einzigen Satz. »Entschuldigen Sie die Störung, Herr Kratzer.« Wobei die Betonung auf dem ersten Wort liegt. Entschuldigung. Dieses Wort auszusprechen, verschafft ihr ein erstes Gefühl der Erleichterung.
Draußen, vorm Verhörzimmer, erzählt Elsa stichwortartig, was sie von Elvira Felber erfahren hat.
»Um Himmels willen«, entkommt es Degenwald. Er ist schier außer sich. Fährt sich immer wieder mit der Hand über die Bartstoppeln. »Ich verhöre vermutlich die ganze Zeit über den Falschen, während der Richtige die nächsten Schritte plant. Herrgottnochmal, ich hatte doch gesagt, dass wir diesen Speckbacher nicht aus den Augen lassen dürfen.«
»Hatten Sie. Ich weiß«, gibt Elsa zu. »Es tut mir auch schrecklich leid. Sie glauben gar nicht, wie sehr«, verspricht sie wie ein artig gewordenes Kind.
»Für ein schlechtes Gewissen ist jetzt keine Zeit«, fährt Degenwald dazwischen. Er schiebt Elsa beiseite und hastet an ihr vorbei. Während er den Gang hinuntergeht, spricht er eilig weiter. »Wir müssen Speckbacher suchen. Wenn er unser Mann ist, kommt wenig Erfreuliches auf uns zu. Das kann ich jetzt schon versprechen.«
Wenn er Entschlüsse fasst, hat das meistens Hand und Fuß. Brasilien. Er hat das Land auf dem hell erleuchteten Globus entdeckt, der in seinem Schlafzimmer auf dem Ecktisch steht. Eine Bar irgendwo in Brasilien. Dazu zwei Hunde als treue Weggefährten. Das wär’s. Vermutlich gab’s dort jede Menge junger Mädchen. Sanftbraun getönte Haut. Langes borstiges, dickes Haar. Eine fremde Sprache. Warum nicht völlig neu beginnen? Schreiben konnte er überall. Er würde endlich das Buch beginnen, das ihm im Kopf herumspukte und das er sich nie zu schreiben getraut hatte. Ein anderer Brotjob anfangs würde ihn auch nicht stören.
Speckbacher packt ohne System seine Sachen. Wirft die wichtigsten Utensilien, Kleidung, technische Geräte, Fotoalben und Schriftstücke in einen Seesack und verstaut den Rest in mehrere Schachteln. Dann holt er einen Koffer vom Dachboden und stopft auch den voll. Als Letztes nimmt er Nadines Rucksack an sich. Den wird er nach Brasilien mitnehmen und dort entsorgen.
Es wird vermutlich nicht lange dauern, bis sie ihn wegen dieses Mädchens aufgreifen werden. Dem muss er zuvorkommen.
Der Schlüssel. Seine Story. Die legt er auf Eis. Er erinnert sich an den Tag, als er den Gasteiger-Hof zum ersten Mal ansteuerte. Er ist mit dem Wagen vorgefahren und hatte – aus sicherem
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